Eine Collage aus zwei Bildern: Prof. Dr. Sabina Jeschke bei einer Rede, eine Langzeitbelichtung einer Gleisanlage mit diversen vorbeifahrenden Zügen

Foto: Pablo Castagnola/Max Lautenschläger/Deutsche Bahn AG

Sabina Jeschke: „Eine Machtverschiebung ist bereits sichtbar“

14.05.2019

Prof. Dr. Sabina Jeschke ist eine der führenden deutschen Expertinnen für Digitalisierung und Künstliche Intelligenz (KI). Die in Schweden geborene 50-Jährige, die viele Jahre an deutschen Universitäten tätig war, ist seit Herbst 2017 Vorstand Digitalisierung und Technik der Deutschen Bahn AG. Der Deutsch-Schwedischen Handelskammer stand sie für ein Interview zur Verfügung.

Deutsch-Schwedische Handelskammer: Künstliche Intelligenz ist als Schlagwort derzeit in aller Munde, in der Wirklichkeit vieler Unternehmen scheint es aber noch nicht richtig angekommen zu sein. Warum sollte man sich als Unternehmen verstärkt mit dem Thema auseinandersetzen?

Prof. Dr. Sabina Jeschke: Wir stehen vor einem radikalen Wandel unseres Weltbilds: Intelligenz war für die breite Masse – Spezialisten der Informatik einmal ausgenommen – bislang auf den Menschen und vielleicht noch auf die Hauskatze beschränkt. Kern der vierten industriellen Revolution ist aber, dass hier das Konzept der Intelligenz auf technische Systeme übertragen wird. Wir stehen damit vor dem Durchbruch wirklich intelligenter technischer Systeme, die sich selbstständig weiterentwickeln und eigene Lösungen hervorbringen. Das ist ein Paradigmenwechsel, der unsere Welt auf den Kopf stellt.

Und gleichzeitig liegen darin riesige Chancen, die es zu nutzen gilt. Unternehmen müssen sich frühzeitig mit den neuen Technologien auseinandersetzen und entsprechende Kompetenzen aufbauen, sonst tun es andere. Diese „Machtverschiebung“ – die im Übrigen auch frühere industrielle Revolutionen begleitet hat – der sogenannte vendor change, ist bereits sichtbar. Während früher nur Top-Maschinenbauer Innovationen für Autos entwickeln konnten, zeigt das Google-Car von 2011, dass heute die datenbasierten Unternehmen selbst in „Traditionsbranchen“ die Führung übernehmen können, etwa Uber, Waymo, Amazon, Alibaba oder Tencent.

Welche Entwicklung erwarten Sie in den kommenden fünf bis zehn Jahren? In welchen Bereichen wird sich KI in Wirtschaft und Gesellschaft durchsetzen?

Wir können mit KI bereits heute riesige Potentiale heben. Für die Zukunft ist es wichtig, zu verstehen, dass es zwei große Klassen von KI-Algorithmen gibt: Wir haben erstens die datengetriebenen Verfahren, bei denen man Muster in bestehenden Daten analysiert, um damit eine Vorhersage für die Zukunft zu machen und Systeme zu steuern. Voraussetzung ist, dass Daten bereits vorliegen. Datenbasierte Verfahren sind heute bereits Standard, etwa bei Banken oder in der Medizin.

Spannend wird es vor allem in Situationen, in denen wir keine oder wenige Daten haben. Hier greift die zweite große Kategorie, das sogenannte Trial and error driven-Verfahren. Die „Maschine“ tastet sich langsam vor und nähert sich schrittweise der Lösung. Ähnlich wie bei einem Blinde-Kuh-Spiel, bei dem wir einen beliebigen ersten Schritt machen, um dann das Ergebnis zu bewerten und von dort aus den nächsten Schritt zu planen. Während bei datengetriebenen Verfahren die Unternehmen im Vorteil sind, die über große Mengen an Daten verfügen, etwa Google, ist dieser Vorteil bei nicht datengetriebenen Verfahren nicht vorhanden. Das ändert die Wettbewerbssituation grundlegend. Der im Moment oft als unüberwindlich wahrgenommene Marktvorteil von Google und Co. kann mit Trial and error-KI grundsätzlich gebrochen werden. Auch politische Debatten über Datenbesteuerungen oder Datenmissbrauch erübrigen sich. Die KI-Anwendungen in diesem Bereich sind sicher die „originelleren“, obgleich aber noch weniger reif.

Derzeit machen zudem vor allem neuronale Netze und Deep Learning von sich reden, etwa für die Bilderkennung beim autonomen Fahren. Bei der Deutschen Bahn wird zum Beispiel der An- und Verkauf der Energie für den Betrieb von Zügen durch neuronale Netze gesteuert. Deren Durchbruch wurde erst durch die radikal gestiegene Rechnerleistung der letzten Jahre möglich. Das Mooresche Gesetz, nach dem sich alle 18 Monate die Rechnerleistung verdoppelt, galt lange als gesetzt. Neuere Entwicklungen, etwa noch leistungsfähigere Prozessoren oder Quantencomputing, setzen neue Maßstäbe. Kurz gesagt: Es ist heute kaum absehbar, was morgen möglich ist. Fakt ist, dass KI auf dem Vormarsch ist – in allen Bereichen.

Welche Risiken sehen Sie beim verstärkten Einsatz von künstlicher Intelligenz und wie sollte man diesen Risiken begegnen?

Die neuen Systeme sind deshalb „radikal“, weil sie mit unseren aktuellen Vorstellungen brechen. Wir sind es gewohnt, Technik zu kontrollieren. Ein autonomes Auto wird zwar noch entwickelt, produziert und programmiert – in dem Moment aber, in dem es tatsächlich autonom fährt, beginnt es zu lernen: Es entwickelt, es verändert sich. Ein solcher Lernprozess kann längst nicht mehr in dem Maße kontrolliert werden, wie wir es bislang gewohnt sind. Auch darauf müssen wir uns einlassen und die Vorteile für uns sehen. Selbstständiges Lernen kann zu völlig neuen Ansätzen führen, weil das System „um die Ecke sehen kann“ – was ein menschlicher Fahrer eben nicht kann. Daraus entstehen vollkommen neue Sicherheitskonzepte, bei denen die Ethik in die Technik implementiert ist. Natürlich benötigen wir zusätzlich gesetzliche Regelungen, die den Rahmen des Möglichen abstecken.

Wie unterscheiden sich Deutschland und Schweden, Ihrer Erfahrung nach, in Bezug auf die Herangehensweise an und den Einsatz von KI?

Ich habe 2017 den Aufbau des Thinktanks für Künstliche Intelligenz bei Volvo Cars in Göteborg unterstützen dürfen. Und dabei wurden mir – bei aller Ähnlichkeit dieser beiden erfolgreichen Ingenieurnationen – mindestens drei zentrale Unterschiede deutlich:

In Schweden ist der Umgang mit Daten entspannter. Jeder hat eine personnummer, unter der alle möglichen personenbezogenen Daten gespeichert sind – etwa medizinische Daten, Daten zu Ausbildung, Wohn- und Besitzverhältnissen, aber auch der Abschluss eines digitalen Abos auf dem Smartphone. Über diese Personennummer können – und konnten schon immer – die unterschiedlichen Daten miteinander im Grundsatz gekoppelt und individuelle Profile erzeugt werden. In Deutschland hingegen führen solche Möglichkeiten zu Privacy-Debatten.

Ein weiterer Punkt ist die geringere Größe des Landes, jedenfalls in Bezug auf die Bevölkerung. Deutschland hat rund 80 Millionen Einwohner, Schweden hingegen nur gut 10 Millionen. Das spiegelt sich auch in der Industrie: Volvo Cars ist eine Größenordnung kleiner als etwa Daimler oder VW. Deutschland ist eine der führenden Industrienationen und die deutsche Ingenieurskunst ist weltberühmt. Deutschland konnte deshalb in der Vergangenheit oft Standards setzen. Das ist eine klare Erwartungshaltung, macht aber auch weniger flexibel. Schweden hingegen weiß, dass es nicht über schiere Größe dominieren kann. Es muss intelligent Marktbereiche identifizieren und konsequent adressieren. Und hier muss es auf innovative Techniken setzen nach dem Motto „der frühe Vogel fängt den Wurm“. Flexibilität gehört in Schweden zur DNA. Deshalb ist Schweden Deutschland in Sachen Digitalisierung weit voraus.

Und schließlich: In Schweden gibt es wenig Angst vor Veränderung, weder beim Einzelnen noch in Unternehmen. Veränderungen werden als Chance betrachtet, um die frei werdenden Ressourcen für etwas Neues zu nutzen. Regelmäßige berufliche Veränderungen und Jobrotationsmodelle etwa sind eine absolute Selbstverständlichkeit. Hinzu kommen ein hervorragendes Bildungs- und soziales Sicherungssystem. In Bezug auf diese „Chancen-Toleranz“ hat Deutschland Nachholbedarf. Unternehmen können hier einen Beitrag leisten. Bei der Deutschen Bahn greifen wir explizit auch kulturelle Faktoren auf, um unsere Mitarbeiter fit für die neue Arbeitswelt zu machen, sodass Ängste sich gar nicht erst aufbauen.

Wo fängt man als Unternehmen an, wenn man künftig mehr auf KI setzen möchte?

Technologische und digitale Neuerungen gibt es wie Sand am Meer. Unternehmen müssen in der Lage sein, Innovationen hinsichtlich ihrer Relevanz für ihr Geschäft zu bewerten und Kompetenzen auf Feldern wie KI oder Data Analytics aufbauen. Ein weiterer Knackpunkt ist die Unternehmenskultur. Unternehmen müssen offen dafür sein, alte Muster zu durchbrechen und auch mal den Blick nach außen zu wagen, um den Anschluss nicht zu verpassen.

Bei der DB ergreifen wir alle Chancen, die uns die Digitalisierung eröffnet, um neue Geschäftsmodelle rund um unser Kerngeschäft Bahn zu entwickeln und besser zu werden. Wir fördern zum Beispiel gezielt Start-ups, deren Innovationen Schlüsseltechnologien für Mobilität und Logistik von morgen sein könnten. Kooperationen mit Universitäten und außeruniversitären Forschungsinfrastrukturen sind eine weitere große Chance, weil hier oft die Kompetenzen entstehen, die in der Industrie erst noch aufgebaut werden müssen. Und schließlich muss man anerkennen, dass andere Nationen einen gewissen Vorsprung haben, etwa die USA und China, aber auch Israel im Bereich Cyber Security oder Südkorea in der Robotik. Internationale Netzwerke sind also ein weiterer Pluspunkt. Und auch hier punktet Schweden – aufgrund seiner kulturellen Offenheit, aber auch seiner „De-facto-Zweisprachigkeit“.

Sie sind bei der DB Vorstand für Digitalisierung und Technik. Wie ist die Bahn aktuell in diesen Bereichen aufgestellt? Und wo sehen Sie die größten Potenziale innerhalb des Konzerns?

Neue Technologien, allen voran KI, sind der größte Hebel, den wir je hatten, um die Schlüsselvorteile der Bahn – ein Verkehrssystem mit hoher Kapazität, großer Zuverlässigkeit und ökologischer Effizienz – noch viel stärker auszubauen und damit die aktuellen Herausforderungen in der Mobilität zeitnah zu lösen.

Bei der Deutschen Bahn ist in den letzten Jahren bereits viel passiert. Projekte wurden aus der Taufe gehoben, neue Einheiten gegründet, Innovationen auf die Schiene und die Straße gebracht. Beispiele sind der deutschlandweit erste autonome Bus im öffentlichen Straßenverkehr oder die automatische Bilderkennung, etwa von Schnee auf Bahnsteigen oder von Schäden am Stromabnehmer der ICE-Züge, sowie der zunehmende Einsatz von Sensorik an Weichen zur vorausschauenden Instandhaltung. Neue Kapazitäten ohne neu zu bauen war in der „alten Welt“ nicht vorstellbar. Mit KI können Züge künftig dichter hintereinanderfahren, weil etwa der hintere in Echtzeit merkt, dass der vordere bremst. Bis zu 20 Prozent mehr Kapazität und tausende Züge mehr pro Tag könnten wir dadurch ins Netz bringen – der Kern unseres Programms „Digitale Schiene Deutschland“.