
Dr. Anna Prinz, Botschafterin Deutschlands in Schweden, und Staffan Bohman, Präsident der Handelskammer bei der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes.
„Wir müssen die EU aus der Krise herausführen und zukunftsfähig machen“
07.07.2020
Am 1. Juli hat die deutsche EU-Ratspräsidentschaft unter dem Motto „Gemeinsam. Europa wieder stark machen.“ begonnen. Im Interview sprechen Dr. Anna Prinz, Botschafterin Deutschlands in Schweden, und Staffan Bohman, Präsident der Handelskammer, über die Erwartungen, die jetzt an Deutschland gestellt werden.
Deutsch-Schwedische Handelskammer: Im Mittelpunkt des Programms der deutschen EU-Ratspräsidentschaft stehen die Bewältigung der Covid-19-Pandemie sowie die Regenerierung der europäischen Wirtschaft. Wie wird Deutschland diese Themen angehen? Welche Ziele sind gesetzt?
Dr. Anna Prinz: Aufgrund der Coronakrise fällt die Ratspräsidentschaft mit einer schwierigen Zeit für Europa und die Welt zusammen: Wir müssen die EU sowohl aus der Krise herausführen als auch zukunftsfähig machen. Deshalb haben wir klare Prioritäten gesetzt: In erster Linie müssen die Bedingungen für den Brexit ausgehandelt werden, eine komplizierte Angelegenheit, die im September und Oktober ansteht.
Bereits Mitte Juli wird eine Entscheidung über den mehrjährigen Finanzrahmen der EU für den Zeitraum von 2021 bis 2027 getroffen, der unbedingt festgesetzt werden muss, damit Europa handlungs- und wettbewerbsfähig bleibt. Zusätzlich haben Deutschland und Frankreich einen Recoveryfonds für besonders hart von der Coronakrise getroffene Länder und für Zukunftsinvestitionen in Umwelttechnologie und Digitalisierung vorgeschlagen. Dessen Umsetzung wird eine große Herausforderung werden: Viele Details müssen noch geklärt werden, zum Beispiel, welche Projekte gefördert werden und welche Bedingungen gelten sollen und ob es sich um reine Zuschüsse oder um Kredite handeln soll.
Wasserstoff im Fokus
Für mich hier in Schweden liegt der Schwerpunkt auf dem Europäischen Grünen Deal und der Grünen Erholung, wobei die Batterieentwicklung und die Wasserstofftechnologie in Schweden und Deutschland als Beispiel dienen. Während der Ratspräsidentschaft möchte ich auch neue Projekte in der Start-up-Szene in den Fokus stellen, damit die besten Ideen in den Vordergrund treten und Gehör bei geeigneten Partnern in Europa finden. Elektrifizierung und Digitalisierung sind die Schlüsselwörter, und hier sind schwedische Unternehmen ganz vorne mit dabei. Insbesondere angesichts der Konkurrenz aus Asien und den USA wird deutlich, dass wir hier nicht zurückfallen dürfen.
Ich freue mich auf eine fruchtvolle Zusammenarbeit! Abschließend möchte ich die Zusammenarbeit im Bereich e-Health erwähnen, bei der das in Stockholm ansässige Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) eine Schlüsselrolle spielt, da es in Pandemiezeiten einen Großteil der europäischen Arbeit koordiniert. Es ist äußerst wichtig, dass die Grenzen der EU nicht geschlossen werden, Infektionsketten unterbrochen werden und lokale Ausbrüche dort bekämpft werden, wo sie aufgetreten sind.
Deutsch-Schwedische Handelskammer: Die Mitgliedsunternehmen der Deutsch-Schwedischen Handelskammer stehen für einen Großteil des bilateralen Handels und der bilateralen Investitionen. Wird sich die Ratspräsidentschaft bei den Unternehmen bemerkbar machen?
Dr. Anna Prinz: Beispielsweise organisiert die Botschaft Anfang September eine Veranstaltung mit den EU-Botschaftern in Schweden und Ericsson zu den Themen Digitalisierung und 5G. Mitte September wird die Botschaft die kürzlich verabschiedete Wasserstoffstrategie in Stockholm vorstellen und wichtige deutsche und schwedische Akteure aus Wirtschaft und Forschung zusammenbringen, um mögliche Kooperationsmöglichkeiten zu identifizieren. Besonderes Augenmerk soll auf innovative Unternehmen gerichtet werden, die zum Europäischen Grünen Deal beitragen. Wir freuen uns auf eine enge Zusammenarbeit mit der Handelskammer.
Es ist eine dankbare Aufgabe, die Ziele der Ratspräsidentschaft in Schweden umzusetzen, da das Land in diesen Fragen eine Vorreiterrolle einnimmt und Konsens darüber besteht, wie wichtig diese Arbeit ist – wie unsere Unternehmensveranstaltungen bezeugen werden.
„Schweden ist ein Mini-Deutschland“
Herr Bohman, welche Erwartungen hat die deutsch-schwedische Wirtschaft an die Ratspräsidentschaft?
Staffan Bohman: Ich stimme Botschafterin Dr. Prinz in den Prioritäten voll und ganz zu. Konkret glaube ich, dass ein neues Abkommen mit Großbritannien geschlossen werden muss, insbesondere angesichts der Tatsache, dass Großbritannien, ebenso wie Norwegen und Deutschland, einer unserer wichtigsten Handelspartner ist. In Bezug auf den Sanierungsfonds, bei dem sich die Position Schwedens zumindest zum jetzigen Zeitpunkt von der Deutschlands unterscheidet, halte ich es für wichtig, ein Gleichgewicht zwischen Zuschüssen und Krediten zu erreichen, über das sich schwedische Unternehmen und die schwedische Regierung einig sind. Es ist der derzeit einzige Stolperstein, ansonsten ist das Verhältnis zwischen den Ländern sehr harmonisch. Schweden ist in vielerlei Hinsicht ein „Mini-Deutschland“.
„Ein wichtiger Aspekt in Bezug auf den langfristigen Haushalt aus schwedischer Sicht ist, dass Investitionen auf zukunftsorientierte Technologien abzielen müssen. Als Europas größte Volkswirtschaft hat Deutschland eine besondere Verantwortung, in diesem Sinne zu agieren.“
Ein wichtiger Aspekt in Bezug auf den langfristigen Haushalt aus schwedischer Sicht ist, dass Investitionen auf zukunftsorientierte Technologien abzielen müssen. Als Europas größte Volkswirtschaft hat Deutschland eine besondere Verantwortung, in diesem Sinne zu agieren. Angela Merkel hat in den kommenden Monaten eine große Herausforderung vor sich, aber wer würde diese bewältigen können, wenn nicht sie?
Wir haben über Digitalisierung, E-Health und den Europäischen Grünen Deal gesprochen. Was bedeuten diese Schwerpunkte für Wirtschaft und Industrie?
Staffan Bohman: Alle Unternehmen müssen auf der Grundlage ihrer eigenen Bedingungen und Visionen mit diesen Schwerpunkten in Beziehung treten. Meiner Ansicht nach stehen schwedische Unternehmen voll und ganz hinter der Zielsetzung. Gleichzeitig gibt es einen gewissen Unterschied zwischen Schweden und Deutschland, zum Beispiel die Einstellung zur Atomkraft. Süddeutschland kann mehr Solarenergie gewinnen, im Gegenzug haben wir hervorragende Bedingungen für Windkraft in Schweden. All diese Unterschiede sollten berücksichtigt werden, gleichzeitig handelt es sich nur um Kleinigkeiten. Letztendlich muss jedes einzelne Unternehmen sicherstellen, dass konkrete Entscheidungen für die Zukunft getroffen werden.
Innerhalb der EU nimmt Schweden eine eher zurückhaltende und abwartende Haltung ein. Die schwedische Wirtschaft fordert eine aktivere Rolle des Landes. Kann die deutsche Ratspräsidentschaft dazu beitragen, dass sich hier Positionen verändern? Inwiefern könnte Schweden sich aktiver einbinden?
Staffan Bohman: Es besteht kein Zweifel, dass Schweden vom Binnenmarkt profitiert, und wir sind natürlich eifrige Befürworter davon. Vielmehr geht es um die Bedingungen, zum Beispiel sehen wir in mehreren Mitgliedstaaten demokratische Mängel und eine skeptische Haltung gegenüber der EU, was darauf hinweist, dass die Vorteile der Union nicht klar genug kommuniziert wurden. Eine erfolgreiche EU hängt von einem Zugehörigkeitsgefühl ab – und davon, dass alle die gleiche Richtung streben, sonst gibt es kein Vorankommen. Wir haben das Beispiel Großbritannien und sehen ähnliche Tendenzen in einigen osteuropäischen Ländern. Dies ist allerdings hauptsächlich eine politische Frage. Zusammenfassend glaube ich, dass die EU weniger versprechen sollte und sich stattdessen auf die Umsetzung konzentrieren muss.
Dr. Anna Prinz: Die Zukunft Europas ist ein Schicksalsthema, das während unserer Ratspräsidentschaft behandelt wird, aber auch noch in die nachfolgenden französischen und schwedischen Ratspräsidentschaften 2022 bis 2023 hineinreichen wird. Es gibt keine schnelle Lösung, denn im Moment haben wir mit dem Brexit und Covid-19 dringendere Herausforderungen anzugehen.
„Ich sehe eine hervorragende Gelegenheit für Schweden, auf europäischer Bühne im Zusammenhang mit dem Grünen Deal zu agieren, sowie die Gelegenheit, Projekte und Ideen voranzutreiben.“
Ich sehe eine hervorragende Gelegenheit für Schweden, auf europäischer Bühne im Zusammenhang mit dem Grünen Deal zu agieren, sowie die Gelegenheit, Projekte und Ideen voranzutreiben. Auf diese Weise können schwedische Unternehmen zur Schaffung der künftigen Infrastruktur in Europa beitragen, seien es das Schienennetz, die Batterieentwicklung oder die Elektrifizierung in der Automobilindustrie. Kein Land kann diese Herausforderungen allein bewältigen, wir können es nur gemeinsam schaffen. Und: Wenn die EU einen Standard für alle Mitglieder schafft, dann können diese Projekte viel schneller umgesetzt werden.
„Ich würde es begrüßen, wenn Schweden bei den Zukunftsprojekten Europas ganz vorne mit dabei ist.“
Ich würde es begrüßen, wenn Schweden bei den Zukunftsprojekten Europas ganz vorne mit dabei ist, damit wir gemeinsam in Europa die vereinbarten Klimaziele erreichen und auf dem Weltmarkt bestehen können.