Blaue Wand, Schatten von Menschen und der Text "Wirtschaftliche Einschätzungen zum Coronavirus. Prof. Hubert Fromlet kommentiert für die Deutsch-Schwedische Handelskammer"

Verschärfte Coronakrise trifft auf Wirrwarr beim Kündigungsschutz in Schweden

02.11.2020

Mehr Transparenz in der Coronakommunikation – das fordert unser Senior Advisor Prof. Hubert Fromlet von der obersten schwedischen Gesundheitsbehörde und der Regierung, auch im Interesse der Wirtschaft. Doch offensichtlich haben die angestrebten Reformen am Arbeitsmarkt höhere Priorität.

Vor ein paar Tagen habe ich mir eine Pressekonferenz der obersten schwedischen Gesundheitsbehörde (Folkhälsomyndigheten) und anderer Behörden genau angeschaut. Dabei ging es mir ausschließlich um die Frage, ob das Coronageschehen hinreichend an Unternehmen und Privatpersonen vermittelt wird.

Auch wenn sich der Tonfall inzwischen etwas ernster anhört, war er mir persönlich immer noch zu locker. Zahlen wurden von den Behörden während der Pressekonferenz kaum genannt – nicht einmal die Zahl der Neuinfektionen im Vergleich zum Vortag oder als gleitender Durchschnitt für die letzten sieben Tage.

Der sogenannte Reproduktionswert R für Neuansteckungen durch eine bereits infizierte Person wird von öffentlicher Seite ebenfalls kaum erwähnt. Nach gewisser Suchakrobatik konnte ich zuletzt einen erheblichen Anstieg von 1,08 am 13. Oktober auf 1,49 zehn Tage später notieren (mit gleitendem Durchschnitt für die letzten sieben Tage).

Wieviel hat die Uhr geschlagen?

Insgesamt ist die Webseite von Folkhälsomyndigheten alles andere als übersichtlich und erschwert folglich jedwede Eigenanalyse, auch für Unternehmer und Unternehmen. Dem kann ich nichts Gutes abgewinnen, da die Wirtschaft in den nächsten Quartalen stark von der Covid-19-Entwicklung abhängig sein wird. Besserung ist dringend nötig.

Freiwilligkeit im Kampf gegen Covid-19 verbleibt nach wie vor die Maxime der maßgeblichen Entscheidungsträger. Bei etlichen Empfehlungen herrscht inzwischen jedoch ein rauerer Ton, unter anderem in Stockholm – aber dennoch unaufgeregt. Die obligatorische Benutzung von Masken ist bei den Behörden noch immer kein Thema.

Ob und in welchem Maße Schwedens Politik und Behörden in Bezug auf die faktische Coronakurve hinterherhinken, sich im Gleichschritt bewegen oder gar vorauseilen, lässt sich momentan noch nicht richtig abschätzen. Die letztere Alternative lässt sich wohl ausschließen. Für Deutschland sagen die meisten Experten, dass der in der letzten Woche erzielte partielle Lockdown von Bund und Ländern eine Minute vor zwölf geschehen ist.

„Schätzt Schweden die gegenwärtige exponentielle Dynamik und damit die erforderliche Anzahl an Intensivbetten richtig ein?“

Wenn diese „Zeitangabe“ für Deutschland richtig sein sollte, muss man sich zwangsläufig fragen, wieviel die Uhr inzwischen in Schweden geschlagen hat. Bei Betrachtung des unten präsentierten Diagramms lässt sich erkennen, dass sich die relativen Neuinfektionen pro eine Million Einwohner derzeit in Deutschland und Schweden nur geringfügig unterscheiden. Doch schätzt Schweden die gegenwärtige exponentielle Dynamik und damit die erforderliche Anzahl an Betten auf den Intensivstationen richtig ein?

Das frage ich mich als virologischer Laie, aber auch als jahrelanger statistischer Anwender von beispielsweise Zeitreihen exponentiellen Aussehens. Zuletzt stieg die Kurve von Neuinfektionen exponentiell an.

Die Grafik wird täglich aktualisiert (Stand: 02.11.20). Quelle: Our World in Data.

Transparenz wichtig für die Wirtschaft

Mein Anliegen mit diesem Artikel ist keinesfalls, die weitere Entwicklung der Covid-19-Krise in schwarz zu malen – trotz aller Sorgen. Mir geht es hauptsächlich darum, für mehr Transparenz in Coronafragen zu werben – nicht zuletzt im Interesse von vielen Unternehmen und privaten Haushalten.

Gleichzeitig sollte aber hervorgehoben werden, dass nicht alles zappenduster für die schwedische Wirtschaft aussieht. Es gibt auch Lichtblicke – trotz der trüben Coronalage in ganz Europa, welche von der Exportwirtschaft nicht unterschätzt werden sollte. Die Aussichten für einzelne Unternehmen oder Branchen können sich durchaus sichtlich unterscheiden.

Kündigungsschutz – schon wieder ein neuer Entwurf

Schwedens Sozialdemokraten, Seniorpartner der gegenwärtigen Minderheitsregierung, erreichten bislang noch keine Lösung für ihr äußerst empfindliches Dilemma bei der Findung neuer Regeln für den Kündigungsschutz. Die jetzige Situation erscheint höchst kompliziert und könnte als konkretes Beispiel für den spieltheoretischen Forschungsbereich dienen.

Welchen Weg die Sozialdemokraten in der Frage des Kündigungsschutzes (Lagen om anställningsskydd, LAS) letztendlich wählen – irgendein Part seitens der Politik oder der Gewerkschaften wird sich vor den Kopf gestoßen fühlen.

„Welchen Weg die Sozialdemokraten beim Kündigungsschutzes auch wählen – irgendein Part seitens der Politik oder der Gewerkschaften wird sich vor den Kopf gestoßen fühlen.“

Als Grundlage für die angestrebten Reformen am Arbeitsmarkt sollte gemäß den Plänen der Regierung zunächst ein Expertengutachten dienen. Zwischenzeitlich verwarf die Regierung diese Strategie, einschließlich des Gutachtens, und gab sodann dem Inhalt des bereits abgeschlossenen Vertrags zwischen dem Arbeitgeberverband Svenskt näringsliv (SN) und dem Privatangestelltenkartell (Privattjänstemannakartellen, PTK) den Vorrang.

Diese Positionierung erzürnte vor allem die Linkspartei und den Dachverband der Arbeiterbewegung Landsorganisationen i Sverige (LO), langjähriger Alliierter der Sozialdemokraten. Ministerpräsident Löfven konnte wohl eine derartige historische Belastung nicht allzu lange akzeptieren und hat sich gerade für einen weiteren Neuanfang entschieden: Das SN-PTK-Abkommen soll weiterhin als Fundament dienen, allerdings nur für ein weiteres Gutachten unter Einbeziehung von LO.

Dieser Entwurf wurde von der Linkspartei gutgeheißen, von der bürgerlichen Zentrumspartei aber sofort abgelehnt. Der Wirrwarr in der LAS-Frage geht also weiter. Klar ist nur, dass LAS höchste politische Priorität bei der sozialdemokratischen Regierungsmajorität besitzt, de facto bislang wohl mehr als Covid-19. Zeitgewinn scheint ein neues und wichtiges Ziel zu sein. Dennoch verbleibt auch die nächste Zeit sehr spannend.

Tarifvertrag für die Industrie unter Dach und Fach

Erwähnenswert sind noch die abgeschlossenen Tarifverhandlungen für die schwedische Industrie. Der Tarifabschluss hat eine Laufzeit von 29 Monaten, in praxi vom 1. November 2020 bis zum 31. März 2023. Eine rückwirkende Erhöhung für Zeit von April bis Oktober 2020 konnten die beteiligten Gewerkschaften aber nicht durchsetzen. Insgesamt handelt es sich um Lohn- und Gehaltserhöhungen von 5,4 Prozent, davon ca. eine halbe Prozenteinheit für erhöhte Renteneinzahlungen. Man kann davon ausgehen, dass dieser Anstieg auch als Norm für andere Tarifverhandlungen dienen wird.

5,4 Prozent nehmen sich nicht gerade niedrig aus. Dies bedeutet 2,23 Prozent im Jahresdurchschnitt, etwas mehr gegen Ende der Laufzeit. Darüber hinaus überrascht in Coronazeiten die lange Laufzeit. Die große Frage ist, wie der neue Tarifvertrag einzelne Unternehmen beeinflussen wird. Alle Unternehmen lassen sich nicht über einen Kamm scheren.

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Hubert Fromlet

Affiliierter Professor an der schwedischen Linné-Universität und Senior Advisor der Deutsch-Schwedischen Handelskammer

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