Liv Heidbüchel, Radio Schweden, moderierte die Diskussion über Berufsausbildung in Deutschland und Schweden.

Lotta Naglitsch, schwedische Schulbehörde: Das schwedische Schulsystem hat traditionell die Hauptverantwortung für die Bildung.

Matthias Anbuhl, DGB: Ein Bildungssystem ist kein Exportschlager. Man muss die individuellen Voraussetzungen berücksichtigen.

Thomas Hagnefur, LO: Wir sehen ein Lehrlingssystem positiv, aber die Sozialpartner müssen Einfluss auf die Ausgestaltung haben.

Hans-Theodor Kutsch, Vizepräsident Deutsch-Schwedische HK: Das duale Ausbildungssystem steht vor großen Herausforderungen.

Christiane Eberhardt, Bundesinstitut für Berufsbildung: Ein einmal gewählter Berufsweg gilt nicht bis zum Lebensende.

Pär Lundström, EIO: Schweden ist weltweit führend in Sachen Erwachsenenbildung.

Bei der Diskussion ging es in erster Linie um eine Vorstellung und einen Vergleich der Ausbildungssysteme in beiden Ländern.

Dialog zu beruflicher Ausbildung: „Ein Bildungssystem lässt sich nicht exportieren”

28.10.2015

Deutschlands duales System für die Berufsausbildung ist in den vergangenen Jahren im Ausland – nicht zuletzt in Schweden – auf großes Interesse gestoßen. Aber das Modell einfach zu übernehmen, funktioniert nicht. Stattdessen könnten Schweden und Deutschland voneinander lernen, betonten die Teilnehmer einer „Tyskland i dialog“-Diskussion zum Thema vergangene Woche im Goethe-Institut in Stockholm.

„In Deutschland erleben wir eine Art Berufsbildungstourismus. Nahezu täglich empfange ich Delegationen aus allen möglichen Ländern, die mehr darüber erfahren wollen, wie die berufliche Ausbildung bei uns organisiert ist. Aber ein Bildungssystem ist kein Exportschlager. Das ist wie wenn ich zum Optiker gehe. Der sagt ja auch nicht: Nehmen Sie meine Brille, durch die sieht man gut. Man muss die individuellen Voraussetzungen berücksichtigen“, sagte Matthias Anbuhl, Abteilungsleiter Bildungspolitik und Bildungsarbeit beim Deutschen Gewerkschaftsbund.

Zusammen mit zwei weiteren deutschen und drei schwedischen Experten war er vom Goethe-Institut Schweden, der Deutsch-Schwedischen Handelskammer und derDeutschen Botschaft Stockholm zu einem Dialog über Berufsausbildungen in Deutschland und Schweden eingeladen worden. Bei der Podiumsdiskussion ging es in erster Linie darum, die Systeme in beiden Ländern mit ihren jeweiligen Stärken und Schwächen gegenseitig vorzustellen und zu vergleichen.

Arbeitsplatz und Berufsschule

Christiane Eberhardt vom Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) gab dem schwedischen Fachpublikum einleitend einen kurzen Überblick über das deutsche System und dessen Besonderheiten. Dabei ging sie auf die zahlreichen Dualitäten des dualen Systems ein und hob auch die zentrale Rolle der Kammern (Industrie- und Handelskammern sowie Handwerkskammern) hervor.

„Insgesamt gibt es zurzeit 327 anerkannte Ausbildungsberufe für alle Bereiche der Wirtschaft und Verwaltung. Das Berufsbildungssystem ist jedoch nicht starr, sondern es wird immer wieder reformiert. Diese ständigen Anpassungen an gesellschaftliche und wirtschaftliche Veränderungen werden als gemeinsame Aufgabe aller beteiligten Partner verstanden“, sagte Christiane Eberhardt.

Andere Voraussetzungen in Schweden

Auch in Schweden gibt es seit einigen Jahren die Möglichkeit, eine dreijährige Lehrlingsausbildung zu durchlaufen, bei der, ähnlich wie in Deutschland, Schule und Arbeitsplatz, Theorie und Praxis miteinander verknüpft werden. Organisiert wird das System über die „Gymnasien“, die fast alle schwedischen Schüler nach dem Abschluss der neunjährigen Gesamtschule besuchen. Die Schulen gehen dabei Kooperationen mit lokalen Unternehmen ein und verteilen die interessierten Bewerber auf die vorhandenen Ausbildungsplätze. Durch den Besuch freiwilliger Zusatzkurse können die Schüler während ihrer Berufsausbildung außerdem die Hochschulreife erwerben.

Im Vergleich zu Deutschland spielen die Unternehmen in diesem System eine eher untergeordnete Rolle als Partner zur Vermittlung praktischer Berufserfahrung. Lokale Handelskammern sind sogar gänzlich unbeteiligt. Für die unterschiedliche Ausrichtung und die deutlich geringere Bedeutung des Berufsbildungssystems gibt es jedoch organisatorische und historische Gründe, wie Lotta Naglitsch, Leiterin des Lehrlingszentrums der schwedischen Schulbehörde, betonte:

„Wir haben in Schweden zum Beispiel sehr wenige staatlich regulierte Berufe. Außerdem existiert bei uns das althergebrachte System mit Meister, Geselle und Lehrling seit dem Ende des Zunftwesens 1846 nur noch in sehr begrenztem Umfang. Und dann haben wir eben auch eine lange Tradition, dass dem staatlichen Schulsystem die Hauptverantwortung für die Ausbildung unserer Bürger zukommt:“

Unzureichende Verankerung bei der Einführung

Auch Thomas Hagnefur von der Abteilung für Wirtschaftspolitik und Arbeitsmarkt des schwedischen Gewerkschaftsbunds LO betonte die Unterschiede zwischen Deutschland und Schweden. Seiner Ansicht nach ist es wenig Erfolg versprechend, das deutsche System in Schweden zu kopieren.

„Als man das gymnasiale Lehrlingssystem vor ein paar Jahren in Schweden einführte, hatte der damalige Bildungsminister das gut funktionierende deutsche Modell und die deutlich niedrigere Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland studiert. Aber man fokussierte zu stark auf diese konkrete Form der  Ausbildung und das erste Versuchsprojekt wurde zum Flop. Es war kontraproduktiv zu kommunizieren, dass sich die Ausbildungen vor allem an unmotivierte Schüler richteten. Auch gab es zu Beginn keine richtige Verankerung des Systems bei Arbeitgebern und Gewerkschaften. Wir bei LO sehen ein Lehrlingssystem grundsätzlich positiv, aber die verschiedenen Branchen mit ihren jeweiligen Sozialpartnern müssen entscheidenden Einfluss auf die Ausgestaltung haben.“

Ausbildung als „Premiummarke“

Die weitreichende Beteiligung von Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern an der Ausformung der Rahmenbedingungen für „ihre“ Berufsausbildungen wurde von den aus Deutschland angereisten Diskussionsteilnehmern als ein wichtiger Erfolgsfaktor des deutschen Systems herausgestellt. Diese führe zu einer tiefen Verankerung und hohen Akzeptanz bei Unternehmen und Angestellten. Außerdem gelte die berufliche Ausbildung in Deutschland als „Premiummarke“ und sei keineswegs ein System der Gescheiterten, wie Matthias Anbuhl es ausdrückte. Viele Unternehmen bildeten auf diesem Weg ihr Fachpersonal aus, das sie dann oftmals über lange Zeit weiterbeschäftigten.

Allerdings funktioniert bekanntermaßen auch in Deutschland nicht alles reibungslos. Das duale Ausbildungssystem stehe heute vor großen Herausforderungen, betonte Hans-Theodor Kutsch, Vorsitzender des Beirates der Ter Hell Plastic GmbH in Hamburg und langjähriger Vizepräsident der Deutsch-Schwedischen Handelskammer:

„Deutschland durchläuft momentan eine starke Akademisierungsphase, die die Gefahr in sich birgt, dass das duale System langfristig an Bedeutung verliert. Inzwischen haben wir mehr Ausbildungsplätze als Bewerber und müssen die Attraktivität des Systems in der Zukunft sichern. Gleichzeitig gibt es viele Schulabsolventen, die gar nicht ausbildungsfähig sind, weil ihnen grundlegende Kenntnisse fehlen. Diese müssen die schulische Ausbildung teilweise noch im Rahmen der beruflichen Ausbildung nachholen. Und all dies in einer Welt, in der sich die bestehenden Berufe und die damit verbundenen Anforderungen permanent verändern.“

Bleiben alle Türen offen?

In dieser veränderlichen Welt ist eine einmalige Ausbildung nur ein Teil des lebenslangen Lernprozesses. Die allermeisten Menschen wechseln im Lauf ihrer Karriere den Arbeitsplatz oder gar den Beruf. Jeder muss ständig am Ball bleiben und sich weiterbilden. Deshalb ist es notwendig, dass einem alle Türen auch später im Leben noch offenstehen – egal welche Grundqualifikation man hat.

„Ein einmal gewählter Berufsweg gilt nicht bis zum Lebensende. In Deutschland gibt es große Modellversuche zur Anerkennung beruflicher Qualifikationen an den Universitäten. Aber die Hochschulen entscheiden selbst, wen sie zulassen, und bisher machen viele gar nicht von diesen Möglichkeiten Gebrauch“, berichtete Christiane Eberhardt.

„Viele Hochschulen sind derzeit schon mit den vielen Abiturienten überfordert. Gleichzeitig finden leistungsschwächere Schüler keinen Ausbildungsplatz und können so nie auf dem regulären Arbeitsmarkt Fuß fassen. Außerdem haben wir hunderttausende Flüchtlinge, die wir integrieren werden müssen. Die Frage stellt sich schon, wie viele Türen für diese Gruppen eigentlich offen sind“, sagte Matthias Anbuhl.

Schweden weist in der Erwachsenenbildung den Weg

Vielleicht ist es daher vor allem dieser Punkt, bei dem sich Deutschland von schwedischen Lösungsansätzen inspirieren lassen könnte. Auch wenn hierzulande ebenfalls nicht allen alle Türen immer offenstehen, gibt es doch zahlreiche Möglichkeiten, Kenntnisse und Abschlüsse später im Leben nachzuholen, die Karriere zu wechseln und in einem anderen Bereich noch einmal von vorne anzufangen oder einfach nur das eigene Wissen auf den neuesten Stand zu bringen.

„Schweden ist weltweit führend in Sachen Erwachsenenbildung. Dies ist ein wichtiger Grund dafür, warum der schwedische Arbeitsmarkt als Ganzes, trotz der Schwierigkeiten beim Berufseinstieg, vergleichsweise gut funktioniert. Für Menschen mit einer beruflichen Ausbildung ist es beispielsweise nicht schwer, später in einen anderen Beruf zu wechseln. Lebenslanges Lernen ist in der heutigen Gesellschaft eine Notwendigkeit und das Lehrlingssystem allein kann nicht alle Probleme lösen. Zahlreiche unterschiedliche Lösungen und Wege sind notwendig, um für jeden etwas Passendes anzubieten“, schloss Pär Lundström, verantwortlich für Berufsausbildung beim Branchenverband der schwedischen Elektrotechnikunternehmen EIO, ab.