Der Text "Schweden unter der Lupe" vor der Skyline von Stockholm

Politik und Wirtschaft im schwedischen Wahlkampf

24.08.2022

Am 11. September wird in Schweden gewählt. Die meisten Experten sprechen bislang von einem offenen Wahlausgang. Die nächste Regierung wird jedoch kaum ohne Koalition mit ganz links oder ganz rechts auskommen. Vielleicht reicht aber diesbezüglich auch eine parlamentarische Unterstützung, schreibt Hubert Fromlet.

Wirtschaftspolitisch handelt sich der Wahlkampf in erster Linie um eine Überbietungspolitik bei der Kompensation für die immens angestiegenen Energie- und Lebensmittelpreise und Maßnahmen gegen die viel zu hohe Inflation. Gleichzeitig werden die Lohnverhandlungen im nächsten Jahr insgesamt wohl eher dürftig ausfallen. Somit stehen Schwedens Konsumierenden keine guten Zeiten bevor, aber noch immer helfen die sehr stabilen Staatsfinanzen bei den Notprogrammen. Längerfristige wirtschaftspolitische Strategien lassen sich derzeit bei einer ungewissen Regierungsbildung jedoch kaum erkennen – abgesehen von den mehr allgemeinen Orientierungen ideologischer Natur.

Inflationsausgleich, Verbrechensbekämpfung und Segregation im Fokus

Alle Prinzipien, Ideen, Ziele und Vorschläge der verschiedenen Parteien im gegenwärtigen Wahlkampf lassen sich in der hier erforderlichen Kürze nicht aufzählen. Abgesehen von Kompensationsversprechen an die privaten Haushalte für exorbitante Energiepreise und die gleichzeitig unerträglich hohe Inflation, rücken Verbrechensbekämpfung, Segregation und Integration sowie Klima und Umwelt bei den meisten schwedischen Parteien in den Vordergrund der hauptsächlichen Wahlthemen.

Als enttäuschend müssen vor allem im bisherigen Wahlkampf zwei thematisch allzu untergeordnete, aber gleichwohl sehr gewichtige Zukunftsbereiche gewertet werden:  die Gestaltung einer längerfristig wachstumsfreundlichen Wirtschaftspolitik und die perspektivisch von den meisten Parteien größtenteils zu wenig behandelten Wachstumsfaktoren Schule, Bildung und Steuern. Auch die zukünftige strukturelle Energiepolitik wurde bislang von den meisten Parteien zu oberflächlich dargelegt, wie auch die Bewältigung der Strukturprobleme am Arbeitsmarkt und die notwendigen Verbesserungen am Wohnungsmarkt.

Wahlkampf ohne zukunftsweisende wirtschaftliche Strukturziele – ohne unbeliebten Partner wird die nächste Regierung nicht auskommen

Eine Reihe schwedischer Wahlbeobachterinnen und Wahlbeobachter sehen im Wahlkampf zumindest teilweise eine Amerikanisierung mit persönlichem Fokus auf die zwei Hauptkandidaten: die regierende sozialdemokratische Ministerpräsidentin Magdalena Andersson und den Vorsitzenden der konservativen Moderaten, Ulf Kristersson. Eine derartige Strategie passt den zwei momentan größten Parteien sehr wohl ins Konzept, da so von vielen Detailfragen abgelenkt werden kann.

Die höchstwahrscheinlich äußerst schwierige Regierungsfindung lässt sich damit begründen, dass sowohl eine sozialdemokratisch als auch eine konservativ (bürgerlich) geführte Regierung Hilfestellung von ungeliebten Partnern benötigen wird. Sozialdemokraten und Grüne, die schon früher länger zusammen regiert haben, wollen offensichtlich wieder gemeinsam in eine neue Koalition eintreten.

Da will offensichtlich auch das historisch mehr ländliche und ideologisch bürgerlich orientierte Zentrum mit dabei sein, was aber auch noch nicht für eine (Mehrheits-)Regierung unter Magdalena Andersson reichen dürfte. Dazu bedarf es aller Wahrscheinlichkeit nach auch einer aktiven Zusammenarbeit mit den Linken – für das Zentrum eigentlich eine kaum akzeptable Alternative, welche zudem für die Linken nur bei direkter Teilnahme in der nächsten Regierungskoalition vorstellbar ist.

Klingt all dies nicht verwirrend, nicht zuletzt für die Wählerinnen und Wähler?

Klingt all dies nicht verwirrend, nicht zuletzt für die Wählerinnen und Wähler? So ist es in der Tat. Verwirrend sind auch die Voraussetzungen für eine konservative (Mehrheits-)Regierung unter Ulf Kristersson. Dabei ist noch nicht einmal völlig sicher, dass die Moderaten wirklich als größte Oppositionspartei aus den Wahlen hervorgehen werden. Eventuell könnten die nationalistischen Schwedendemokraten (SD) den Moderaten mehr auf den Fersen sein, als dies momentan allgemein angenommen wird. Sicher hat Kristersson eigentlich nur die relativ kleinen Christdemokraten für eine mögliche Koalitionsregierung auf seiner Seite. Das heißt mit anderen Worten, dass Kristersson irgendwie eine Form von Zusammenarbeit mit den Schwedendemokraten zustande bringen muss – sei es als wenig geschätzten Koalitionspartner oder über eine konstruktive Zusammenarbeit mit SD bei Abstimmungen im Reichstag.

Schlusssatz: Ohne die Linke kann Andersson kaum Ministerpräsidentin bleiben – und ohne Unterstützung der Schwedendemokraten kann Ulf Kristersson nicht neuer Ministerpräsident werden.

Konjunkturpessimismus nimmt zu – auch die Sorgenfalten der Politiker

Lange Zeit nahmen die schwedische Reichsbank, andere Zentralbanken, Analysten auf den Finanzmärkten und Politiker die im Hintergrund lauernden Konjunktur- und Inflationsrisiken viel zu sorglos hin. Langjährige volkswirtschaftliche Prinzipien wurden vergessen, verdrängt oder verkannt – auch von zu modellorientierten Universitäten mit mangelndem Praxisbezug.

Zudem lassen die noch für geraume Zeit hohen Energiepreise die Konjunkturaussichten – auch in Schweden – in einem noch trüberen Licht erscheinen.

Beispielsweise wurde der Zusammenhang von Liquiditätsschöpfung der Zentralbanken und Kreditschöpfung der Banken in den letzten Jahren vielmals als unerheblich eingestuft. So wurden die Analysen der aus der Kreditschöpfung resultierenden Zuwächse von Verschuldungsquoten zu sehr nur auf die öffentlichen Schulden fokussiert – und dadurch zu wenig auf die wesentlich höhere private Verschuldung (von primär privaten Haushalten). Bei deutlich weiterhin steigenden Zinsen kann sich diese Konstellation noch zu einem richtigen Konjunkturhemmer entwickeln, wahrscheinlich weiter verstärkt durch negative Trends an den schwedischen Vermögensmärkten (Immobilien und Aktien). Zudem lassen die noch für geraume Zeit hohen Energiepreise die Konjunkturaussichten – auch in Schweden – in einem noch trüberen Licht erscheinen.

Daher konnte nicht ausbleiben, dass viele schwedische Konjunkturprognosen allein schon aus diesen zwei Gründen zuletzt deutlich nach unten revidiert wurden. Das geschah neulich auch beim staatlichen Forschungs- und Prognoseorgan ”Konjunkturinstitutet” und durch die Konjunkturexperten von Finanzminister Damberg, die ihre Konjunktursorgen in diesen Tagen deutlich zum Ausdruck brachten. Zwar rechnet das staatliche und unabhängige Konjunkturinstitut für 2022 noch mit einem BIP-Wachstum von 2,4 Prozent, doch der Schein trügt. 2023 sollen es dann – bei aller Unsicherheit – nur noch schwache +0,5 Prozent werden. Diese Prognosen gelten aber ceteris paribus, d.h. unter heutigen Voraussetzungen.

Wer kann noch das Wirrwarr der einzelnen Vorschläge sortieren?

Wie schon oben angedeutet, dreht es sich beim wirtschaftspolitischen Wahlkampf primär um eine Überbietung von Kompensationsleistungen an Unternehmen und private Haushalte. Es scheint hierbei aber vor allem um finanzielle Volumina zu gehen – offenbar weniger um Inhalt und Sinn der einzelnen Maßnahmen.  

Eigentlich fühlt sich keine der größeren schwedischen Parteien verantwortlich für das Entstehen der immer beschwerlicheren Wirtschaftskrise. Die „Feinde” sind ja exogener Natur: die schon zu akuten Coronazeiten existierenden internationalen Versorgungs- und Transportengpässe, Putin und der von ihm ausgelöste globale Energienotstand sowie Chinas internationale Verstrickungen.

Bei nicht sonderlich belastenden finanzpolitischen Fehlern in jüngster Zeit und nach wie vor gutem öffentlichen Verschuldungsstand könnte sich der schwedische Staat durchaus noch ein Stück weiter verschulden. Dies sollte aber nur bei zukunftsträchtigen und zumindest zum Teil längerfristig wachstumsfördernden Maßnahmen erfolgen. Wahlkämpfe enthalten aber nun mal primär kurzfristige finanzpolitische Beeinflussungsversuche auf die Wähler. Ohne Wahlkampf würden wohl (fast) alle schwedischen Parteien (etwas) vorsichtiger mit der staatlichen Neuverschuldung 2023 umgehen wollen.

Wichtige Ideen und Ziele der einzelnen Parteien im aktuellen Wahlkampf

  1. Konstellation A mit Magdalena Andersson (S) als künftige Ministerpräsidentin:

Sozialdemokraterna (S), ähnlicher Kurs wie in der deutschen Sozialdemokratie:

  • Ideen und Ziele: effektive Reduzierung von Kriminalität und Segregation; weniger Einfluss von privaten (Gewinn-)Interessen auf Schulen, Verbesserungen im Gesundheitswesen sowie in der Kleinkinderbetreuung und Altenpflege; Führungsrolle in der grünen Umwelt- und Energieanpassung angepeilt sowie beim Schaffen grüner Jobs; Steuererhöhungen durchaus denkbar.

Miljöpartiet (MP), „De Gröna”:

  • Ideen und Ziele: versucht, sich wieder stärker als engagierte Umweltpartei zu manifestieren; bieten sich selbst als Koalitionspartner für die Sozialdemokraten an.

Potentielle Partner: 

Centern (C), „Zentrum”, historisch ländlich orientiert, sozialliberal, bürgerlich:

  • Ideen und Ziele: bessere Konditionen für kleinere Unternehmen über Steuersenkungen und Erleichterungen am Arbeitsmarkt; Verringerung der regionalen Ungleichgewichte;  Steuersenkungen für Niedriglohnempfänger; immer im Vordergrund: Umwelt und Klima; Ablehnung von Steuerhöhungen.

Vänsterpartiet (V), „Linkspartei”:

  • Ideen und Ziele: passen kaum zu den wirtschaftlichen Prinzipien des „Zentrums” und den richtungsweisenden Kräften in der Sozialdemokratie – auch nicht wegen Opposition zur NATO; gewisse Steuerhöhungen erscheinen unabdingbar.

Zusatz: Obwohl in Schweden nicht diskutiert – weil unbekannt – lässt sich eine große Koalition mit (S) und (M) bei fehlenden praktikablen Alternativen nicht gänzlich ausschließen – auch nicht eine Neuauflage der Regierungsparteien (S) und (MP) von 2018 und deren Kooperation mit (C) und (L), obwohl wenig wahrscheinlich.

  1. Konstellation B mit Ulf Kristersson (m) als zukünftiger Ministerpräsident:

Moderaterna (M), „Die Moderaten”, konservativ:

  • Ideen und Ziele: „Schweden soll wieder in Ordnung gebracht werden”, vor allem durch Kriminalitätsbekämpfung und Strafverschärfung, Reduzierung von Anreizen für Sozialhilfe („Arbeitslinie”), bessere Energie- und Klimapolitik, auch durch mehr Kernkraft.     

Kristdemokraterna (KD), „Christdemokraten”, konservativ mit christlicher Ideologie: 

  • Ideen und Ziele: Verbrechensbekämpfung; Effektivierung des Gesundheitswesens; härtere Politik gegenüber Migranten ohne Aufenthaltsgenehmigung.

Potentielle Partner:

Liberalerna (L), liberale Grundrichtung mit konservativem Zuschnitt:

  • Ideen und Ziele: effektivere Verbrechensbekämpfung; bessere Schul- und Bildungspolitik und ehrgeizigere Zielsetzungen; effektivere Integrationspolitik mit mehr Chancengleichheit und weniger Vorortssegregation; liberale Wirtschaftspolitik für neue Jobs; mehr grüne Wirtschaftspolitik – mit Kernkraft!  

Sverigedemokraterna (SD), „Schwedendemokraten”, rechts außen, nationalistisch, begrenztes Interesse für Umwelt und Klima:

  • Ideen und Ziele: restriktivere Migrationspolitik; effektivere Kriminalitätsbekämpfung; härtere Bestrafung von Kriminellen.

Momentane Stimmenanteile bei Meinungsumfrage vom 16.-18. August 2022

Potenzieller Block mit Andersson (in %):

S            32,7
MP         5,3
C            6,1
V            8,0

Ergebnis: Käme derzeit auf 187 von 175 benötigten Mandaten.

Potenzieller Block mit Kristersson (in %):

M         17,6 
KD         6,0 
L            5,6 
SD        16,1 

Ergebnis: Käme derzeit auf 162 von 175 benötigten Mandaten.                                                                 

Eine große Koalition von S + M (180 Mandate) würde es derzeit schaffen wie auch die Regierungskoalition von 2018 mit S + MP plus den parlamentarischen Unterstützern von C + L (178). Nach wie vor scheint es ein enges Rennen um die Regierungsmacht zu geben.

Unklare Bewältigung der verschiedenen Zielkonflikte

Politische Entscheidungen – insbesondere wirtschaftspolitischer Art – führen immer wieder zu unliebsamen Konflikten zwischen zwei Zielen. Bei bestmöglichem Erreichen von Ziel A entwickelt sich hierbei Ziel B in die falsche Richtung. Oft versucht die Politik in derartigen Fällen eine Art von Kompromiss zu finden, was aber nicht immer die beste Lösung darstellt. Wie all diese Zielkonflikte – alte wie neue – in Schweden in Zukunft gelöst werden, bleibt abzuwarten.

Im schwedischen Wahlkampf zeigen sich jetzt schon eine Reihe von (potenziellen) Zielkonflikten ab, so etwa

  • Kurzfristigkeit kontra Langfristigkeit (z.B. beim Wirtschaftswachstum, in der Klimapolitik).
  • dirigistische Beeinflussung kontra Marktwirtschaft (z.B. im Schulsystem).
  • Abfederungsgelder für hohe Energiepreise und Inflation kontra eventuelle Neigung der privaten Haushalte zu weniger Energieersparnis (psychologisch bedingter Zielkonflikt).
  • Abfederungsgelder kontra zusätzlich starkem Inflationsdruck bedingt durch Kaufkraftverbessrungen.   
  • üppige Ausgabensteigerungen kontra relativ stabile Staatsfinanzen und relativ niedrige Kapitalmarktzinsen.

Kontakt

Hubert Fromlet

Affiliierter Professor an der schwedischen Linné-Universität und Senior Advisor der Deutsch-Schwedischen Handelskammer

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