Hubert Fromlet. Foto: Magnus Hjalmarson Neideman/SvD/TT

Demografie in Schweden kaum ein Thema

17.06.2024

Auch Schweden wird sich demografischen Veränderungsprozessen nicht entziehen können. Allerdings dürfte Schweden von künftigen Herausforderungen weniger betroffen sein als beispielsweise Deutschland. Aber auch die schwedische Politik täte gut daran, sich mit dem Themenkomplex näher zu beschäftigen. Das wäre auch gut aus Unternehmenssicht, meint Prof. Hubert Fromlet, Senior Advisor der Deutsch-Schwedischen Handelskammer. 

Theoretisch nehmen sich Bevölkerungsprognosen nicht allzu kompliziert aus. Nur drei Faktoren beeinflussen die Einwohnerzahlen. Diese sind (mit aktuellem Hauptszenario für Schweden):

  • die Geburtenrate (Fertilitätsannahme 2023: 1,45; 2050: 1,66; 2070: 1,73), 
  • die Sterberate (Annahme: höhere Lebenserwartung bis 2070) und  
  • die Nettomigration (Annahme: relativ unverändert bis 2070).

Die beiden erstgenannten Parameter lassen sich hierbei nur langsam verbessern, beispielsweise über einen längeren Zeitraum hinweg mit gutem Wirtschaftswachstum oder besserer Gesundheitsvorsorge. Zu beachten ist, dass sich auch in Schweden die totale Einwohnerzahl nach dem Wohnsitz bemisst – nicht nach der Nationalität. 

Unsichere Bevölkerungsprognosen

In Schweden werden gründliche Bevölkerungsprognosen für einen längeren Zeitraum mit vielseitig revidierten Voraussetzungen in jedem dritten Jahr erstellt (zuletzt 2024, von SCB auf Englisch), und mit weniger Ausführlichkeit sogar alljährlich. Dadurch werden stets relativ aktuelle Unterlagen für die bevölkerungsrelevanten Planungen der öffentlichen Haushalte ermöglicht.

De facto hat sich die schwedische Bevölkerung zwischen 2012 und 2023 um eine Million auf 10,5 Millionen Personen erhöht. Dieser fast 1-prozentige Nettoanstieg pro Jahr beruhte nicht zuletzt auf umfassenden Flüchtlingsbewegungen – ein totaler Anstieg, der sich aber bis 2033 und auch danach netto auf durchschnittlich um die 0,3 Prozent pro Jahr verringern soll. Dann hätte Schweden im Jahr 2033 cirka 10,8 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner. 

Allerdings ist zu beachten, dass die größtenteils politisch bedingten Einwanderungsprognosen auch in Schweden als ziemlich unsicher anzusehen sind. Die kräftige Reduzierung des angenommenen Bevölkerungsanstiegs für die Jahre 2023 bis 2033 im Vergleich zur vorhergehenden Dekade deutet klar an, dass mit einer restriktiveren Einwanderungspolitik in den nächsten Jahren gerechnet wird und auch auf längere Sicht. Dies ist vermutlich vor allem ein Resultat der parlamentarischen Zusammenarbeit zwischen der gegenwärtigen, relativ konservativen Minderheitsregierung und den rechtsaußen angesiedelten Schwedendemokraten.

„Aber immerhin kann Schweden weiterhin mit einer zunehmenden Bevölkerung rechnen.“

Aber immerhin kann Schweden weiterhin mit einer zunehmenden Bevölkerung rechnen – übrigens ganz im Gegenteil zu Ländern wie Japan, China, Russland oder Korea mit schon heute sinkender Bevölkerung. Eine derartige Erkenntnis kann auch gewisse Bedeutung für die strategische Planung auf Unternehmensebene beinhalten.

Bleibt noch ein kurzer Blick auf die längerfristig zu erwartende Bevölkerungsentwicklung. Hierzu ergeben die Zahlen des schwedischen Statistikamtes SCB im Hauptszenario zusammenfassend folgendes Bild:

Bevölkerungswachstum in Millionen:

2023            10,5
203010,7
204011,0
205011,4
206011,6
207011,8

Quelle: Statistisches Zentralamt (Statistiska Centralbyrån, SCB)

Als wichtigste Variable gilt weiterhin die Nettomigration. Auch längerfristig laboriert die Statistik mit einer jährlichen Nettoeinwanderung von ungefähr 30.000 Menschen, weist aber deutlich darauf hin, dass sich die Unsicherheit bei zunehmender zeitlicher Entfernung deutlich steigert.

Veränderte Demografie auch in Schweden

Während die Bevölkerung eines Landes zumindest theoretisch relativ leicht durch entsprechende migrationspolitische Maßnahmen beeinflusst werden kann, dreht es sich bei der Demografie vor allem um die Altersverteilung der Bevölkerung. Bei der Demografie sind die meisten Einflussfaktoren für verschiedene Altersgruppierungen eher inflexibel, das heißt über einen kürzeren und mittleren Zeitraum hinweg ziemlich starr vorgegeben. Demografische Rahmenbedingungen zeigen sich mit anderen Worten in der Regel für längere Zeit relativ stabil. 

Zuletzt wurden in 2023 bei der schwedischen Altersverteilung 56 Prozent der gesamten Bevölkerung dem Segment der 25-69-Jährigen zugeordnet, wovon ein Viertel im Ausland geboren wurde. 

Trotz der regelmäßig aktuellen Debatte zu Arbeitszeitverkürzungen werden in der offiziellen Kalkulation für den Prognosezeitraum bis 2070 satte 69 Jahre angesetzt. Damit würde sich der Anteil der Bevölkerung im definitionsgemäß arbeitsfähigstem Alter zwischen 25 bis 69 auf 53 Prozent verringern.

Um nun diese 53 Prozent richtig einordnen zu können, muss jedoch auch die prognostizierte Bevölkerungszahl für 2070 herangezogen werden. Das Statistische Zentralamt SCB errechnet für dasselbe Jahr zuletzt eine Totalbevölkerung von 11,8 Millionen.

53 Prozent hiervon entsprechen circa 6,2 Millionen Bürgerinnen und Bürgern, die in 45 Jahren im theoretisch definierten arbeitsfähigsten Alter zwischen 25 bis 69 Jahre alt sein werden. Im Vergleich zum jetzigen Zeitpunkt kommt Schweden somit zu einer Steigerung um cirka 300.000 Personen in dieser Bevölkerungsgruppe.

„Allerdings gibt die Zahl von 6,2 Millionen Personen im arbeitsfähigen Alter im Jahr 2070 keinerlei Auskunft über Angebot und Nachfrage am Arbeitsmarkt.“

Schlussfolgerung: Ein (dringender) demografischer Notstand lässt sich in Schweden bei den gegebenen Voraussetzungen nicht erkennen. Allerdings gibt die Zahl von 6,2 Millionen Personen im theoretisch besonders arbeitsfähigen Alter im Jahr 2070 keinerlei Auskunft über Angebot und Nachfrage am Arbeitsmarkt. Insgesamt rechnen Schwedens Statistiker derzeit mit 11,8 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern im Jahr 2070 – 22 Prozent davon über 69 Jahre alt im Vergleich zu 16 Prozent in 2023. Während desselben Zeitraums wird mit einem Rückgang des Anteils der Altersklasse 0-24 Jahre von 28 auf 26 Prozent der gesamten Bevölkerung gerechnet. Diese Verschiebungen sollten bei aller denkbarer Ungenauigkeit von praktisch involvierten Strategen nicht außer Acht gelassen werden.                                                                                                              

Demografie beeinflusst auch BIP und damit Unternehmen

Die zukünftige demografische Entwicklung wird sich auch auf das Wachstumspotenzial Schwedens – und damit auf weite Bereiche des Unternehmenssektors auswirken. Wirtschaftswachstum ist bekanntermaßen eine Funktion von Produktivität, geleisteter Arbeitszeit und Kapitalversorgung – und beeinflusst die meisten Unternehmen. 

„Daher spielt konsequenterweise die demografische Entwicklung über die Bedingungen am Arbeitsmarkt auch eine wichtige Rolle für das potenzielle BIP-Wachstum.“

Daher spielt konsequenterweise die demografische Entwicklung über die Bedingungen am Arbeitsmarkt auch eine wichtige Rolle für das potenzielle BIP-Wachstum in den nächsten Jahrzehnten und somit für die Entwicklung von Märkten für einzelne Unternehmen. Demografische Entwicklungen können von der Nachfrageseite her sowohl Volumina als auch Produktentwicklung und -gestaltung beeinflussen. Für die nächsten Jahre könnte Schwedens potenzielles Wachstum bei cirka 1,5 Prozent liegen – nicht sonderlich gut, aber deutlich höher als in Deutschland. Länger vorwärts lässt sich das Wachstumspotenzial noch schwerer abschätzen, allein schon wegen der unsicheren Migrationspolitik und heute nicht prognostizierbarer Einflussnahme von KI auf die Produktivitätsentwicklung. 

Für Schwedens verantwortungsbewusste Politikerinnen und Politiker sollte es auch von vitalem demografischem Interesse sein, die Integration der Bevölkerung mit ausländischen Wurzeln entscheidend zu fördern und auch konkret zu verbessern. Jahrzehntelange migrationspolitische Flickschusterei hat Schweden nicht weitergebracht – und wird es ohne große Veränderungsbereitschaft auch in Zukunft nicht tun. Hierzu werden völlig neue Wege benötigt, auch um dadurch die Chance zu besserem potenziellen BIP-Wachstum zu nutzen. 

Generell betrachtet erscheint klar, dass auch Schweden aufgrund der zukünftigen demografischen Verschiebungen bei „ceteris paribus“ – also unter sonst gleichen Bedingungen – in den nächsten Jahrzehnten um eine Reduzierung des Wachstumspotenzials wohl nicht herumkommt – zwar lindriger als in Deutschland, aber dennoch sichtbar. Aber warum sollten die bisherigen Bedingungen für die kommenden Jahre in Stein gemeißelt sein?

Bleibt daher zu hoffen, dass die Freiräume des „ceteris paribus“ – die sich daraus ergeben, dass noch nicht alles vorgegeben ist und auch viel noch verbessert und verändert werden kann – schrittweise wachstumsfördernd neben der Migrations- und Integrationspolitik eingesetzt werden können, beispielsweise durch 

  • Verbesserungen in der Humankapitalbildung und Forschung, 
  • mehr Innovationen und Investitionen in Umwelt- und Infrastruktur inklusive Wohnungsbau, 
  • vorangetriebene unternehmerische Wettbewerbsfähigkeit (bei gleichzeitig verantwortungsvollen Rahmenbedingungen für KI), 
  • moderne Arbeitsgestaltung und Gleichberechtigung,
  • breit angelegte institutionelle Fortschritte mit wohlbedachter Umweltpolitik, 
  • ständig gut untermauerte Makroökonomie.

Schon jetzt an die „Hausaufgaben“ setzen

Um den demografischen Herausforderungen erfolgreich begegnen zu können, sollte die Politik schon jetzt an den notwendigen Anforderungen für eine stabile Zukunft arbeiten. Dies betrifft nicht zuletzt reformbedürftige Bereiche wie Schwedens Arbeitsmarkt, Integration, (Aus-)Bildung, Infrastruktur und Gesundheitswesen, die allesamt langwierige Anstrengungen erfordern. Daher sollte ohne Zögern baldmöglichst an alle „Hausaufgaben“ herangegangen werden. Das heißt aber auch, sich regelmäßig mit den revidierten Prämissen für die Bevölkerungsprognosen auseinanderzusetzen, da immer wieder Veränderungen anstehen werden.

Dies war mein letzter Artikel vor der Sommerpause. Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern einen schönen Urlaub und wünsche eine Rückkehr an die Arbeitsplätze mit frischen Kräften bei hoffentlich verbesserter Konjunktur!
Hubert Fromlet
 

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Hubert Fromlet

Affiliierter Professor an der schwedischen Linné-Universität und Senior Advisor der Deutsch-Schwedischen Handelskammer

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