Der Veranstaltungssaal im Stockholmer Grand Hôtel war voll besetzt.

Nach seiner Keynote-Speech stellte Moderatorin Therese Larsson Hultin Fragen an Joe Kaeser.

Sylvia Schwaag Serger, Vizerektorin Universität Lund.

Alrik Danielson, CEO SKF AB, und Moderatorin Therese Larsson Hultin, SvD Näringsliv.

Carl Bennet, Vorsitzender des Vorstands der Carl Bennet AB.

Robert Falck, Einride AB, und Johanna Wollert Melin, u.a. Trice Imaging Inc.

Ralph Tischer, Geschäftsführer DSHK, Dr. Hans-Jürgen Heimsoeth, Deutscher Botschafter, Joe Kaeser, Staffan Bohman, Präsident DSHK, Ulf Troedsson, Geschäftsführer Siemens AB.

Nach dem Seminar waren die Teilnehmer zu Buffet und Get-together eingeladen.

Joe Kaeser: Die Digitalisierung geht uns alle an

24.04.2018

„Wir müssen dafür sorgen, dass die vierte industrielle Revolution zum Wohl unserer Unternehmen, unserer Wirtschaft und vor allem unserer Gesellschaft verläuft“, erklärte Joe Kaeser, Vorsitzender des Vorstands der Siemens AG, am Donnerstag in seinem Gastvortrag beim German Swedish Tech Forum-Seminar im Rahmen der Jahrestagung der Deutsch-Schwedischen Handelskammer in Stockholm. Der durch die Digitalisierung ausgelöste Wandel von Industrie und Gesellschaft stelle die Welt vor völlig neue Herausforderungen.

In seiner Rede „Technology, Society and the Fourth Industrial Revolution“ vor über 200 Vertretern von Mitgliedsunternehmen und Partnern der Deutsch-Schwedischen Handelskammer analysierte Kaeser, wie die Verzahnung von industrieller Produktion mit moderner Informations- und Kommunikationstechnik durch Digitalisierung und künstliche Intelligenz alles für die Menschheit verändert. Die vierte industrielle Revolution berge sowohl Chancen als auch Risiken, so Kaeser. (Lesen Sie auch unser Vorabinterview mit dem Siemens-Chef.)

Einerseits könnten Digitalisierung und Automatisierung das Einkommen und die Lebensverhältnisse von Menschen auf der ganzen Welt verbessern, wenn Waren und Dienstleistungen billiger angeboten werden. Produkte und Service gelangten dank digitaler Bestellungen ohne verteuernde Zwischenhändler zum Kunden. Diejenigen, die sich diese billigeren Angebote zunutze machen können, profitierten am meisten davon.

Anderseits könne die fortschreitende Automatisierung aber auch viele Menschen arbeitslos machen und so zu noch größeren gesellschaftlichen Ungleichheiten beitragen. Um zukünftige soziale Spannungen zu entschärfen, seien bei Mitarbeitern, Management und Politikern schon jetzt Umdenken und die Bereitschaft zum Umlernen erforderlich.

Hoher Bedarf an Aus- und Fortbildung

Sylvia Schwaag Serger bestätigte in der, im Anschluss an Kaesers Keynote-Speech stattfindenden, Podiumsdiskussion den Bedarf an Aus- und Fortbildung. „Wir müssen im Bildungsbereich noch viel tun“, forderte die Professorin und Vizerektorin der Universität Lund. „Die Frage ist, welche Art von Ausbildungen wir brauchen. Das, was die Menschen studieren möchten, deckt sich nicht unbedingt mit dem, was die Unternehmen bei Hochschulabsolventen nachfragen.“

Schwaag Serger, die unter anderem durch ihre Arbeit für die OECD, die EU-Kommission und die Weltbank internationale Erfahrung hat, verlangte eine wertebasierte Führung von den Unternehmenslenkern im privaten und öffentlichen Sektor. Sie betonte, dass künstliche Intelligenz keine Gefahr darstelle, sondern vielmehr eine Voraussetzung für Entwicklung und Bildung sei.

Joe Kaeser hob die Bedeutung von Anpassungsfähigkeit bei allen Beteiligten hervor. Denn nicht nur Fertigung und Kommunikation würden durch die vierte industrielle Revolution flexibler. Nach einer kürzlich veröffentlichten Studie des McKinsey Global Institute müsse bis zu jeder dritte Arbeitnehmer in Industrieländern wie Schweden und Deutschland bis 2030 den Beruf wechseln. Nach Erkenntnissen der Experten von McKinsey sind Jobs, die mit Fertigung und Transport zu tun haben, besonders stark betroffen.

Auswirkungen nicht verschweigen

Die Entwicklung verändert die Produktion mit technischen Durchbrüchen auf Gebieten wie künstliche Intelligenz, selbstfahrende Autos, 3D-Drucker, Robotik, Nano- und Biotechnologie oder Energiespeicherung. Darüber, dass damit in Zukunft auch bestimmte Berufe überflüssig und Arbeitsgaben anders werden, dürften die Unternehmen ihre Belegschaften nicht hinwegtäuschen.

„Ich halte die schnelle Digitalisierung für ausgezeichnet“, sagte Alrik Danielsson, CEO des schwedischen Kugellagerkonzerns und Technologieanbieters SKF in der Gesprächsrunde. „Diese extreme Erhöhung der Produktivität geschieht zum Wohle der gesamten Menschheit. Aber bei Bedarf müssen wir Mitarbeitern bei der Umschulung helfen.“

Danielson machte deutlich, dass ein Unternehmen Personal, dessen Kompetenz es nicht mehr benötige, nicht unbedingt entlassen würde. Es gebe immer etwas zu tun. Obgleich nicht alle Mitarbeiter Veränderungen und Umschulungen als positiv erlebten, könnten Arbeitgeber personelle Umstellungen durchführen.

Soziale Spannungen möglich

Wenn menschliche Arbeitskraft durch Automation weitgehend ersetzt wird, können Arbeitsplätze aber auch ganz verschwinden. Solche strukturellen Veränderungen, die zu einer Aufteilung der Gesellschaft in Menschen, die gefragt sind und gut verdienen, und Menschen, die keiner beruflichen Tätigkeit nachgehen und ein geringes Einkommen haben, beitragen, führen zu sozialen Spannungen.

Joe Kaeser wünschte sich in seiner Rede mehr Initiativen von Entscheidungsträgern aus der Politik, um dieser Gefahr zu begegnen und eine politische Radikalisierung zu vermeiden.

Auch Carl Bennet, Vorstandsvorsitzender der Carl Bennet AB und Haupteigentümer der schwedischen Unternehmen Getinge, Lifco und Elanders, sprach davon, wie wichtig es sei, dass die Gesellschaft niemanden im Stich lasse und Herausforderungen durch die Veränderungen der vierten industriellen Revolution annehme. „Wir müssen dafür sorgen, dass die Transformation für Beschäftigte, Kunden, Unternehmen und Gesellschaft wertvoll ist“, forderte er.

Der schwedische Geschäftsmann ist für sein soziales Engagement bekannt und weist den Unternehmen „eine enorme Verantwortung zu. Man schafft keine erfolgreichen Teams, wenn den Mitarbeitern klar ist, dass sie ohne Weiteres ausgetauscht werden können. Know-how und Qualität sind die Basis von Erfolg“, so Bennet.

Europa liegt zurück

Aber obwohl die Bevölkerung der Europäischen Union vergleichsweise gut ausgebildet ist und ein relativ wohlhabendes Kundenpotential darstellt, ist Europa im Vergleich zu den USA und China wirtschaftlich nicht gut aufgestellt. Darüber waren sich alle Teilnehmer der Gesprächsrunde einig.

Kaeser verwies auf die chinesischen Pläne für eine „Neue Seidenstraße“ (One Belt, One Road) und die Handelspolitik der USA unter dem Motto „America first“. Beide stellten den Versuch dar, die Wirtschaftslandschaft weltweit zu verändern.

Die „Neue Seidenstraße“, soll die Staaten an Chinas alten Handelsrouten wieder enger verbinden. Die Initiative ist das größte Investitionsprogramm seit dem Marshallplan. Mit rund 900 Milliarden Dollar für Infrastruktur im eurasischen Ausland betreibt China damit nicht nur Handels-, sondern auch Geopolitik. „Wenn der Westen nicht bald aufwacht, wird China die führende Nation der Welt“, warnte Kaeser.

Start-ups liefern Inspiration

„Und was können Europa und die EU diesen Plänen entgegensetzen?“ fragte der Siemens-Chef rhetorisch. Zum Beispiel Inspiration. Diese suchten große Konzerne nicht zuletzt in Start-up-Unternehmen und Inkubatoren mit innovativen Ideen.

Johanna Wollert Melin, Gründerin und Vorstandsmitglied von Trice Imaging sowie Mitglied des Advisory Board des Stockholmer Inkubators Sting, geht die Digitalisierung zurzeit nicht schnell genug. Sting hilft Unternehmern, ihre Geschäftsideen zu entwickeln und bietet unter anderem Finanzierung und Netzwerkunterstützung an.

„Für kleinere Firmen kann die Entwicklung nicht schnell genug gehen. Aber es ist wichtig, dass große und kleine Unternehmen zusammenarbeiten. Start-ups entwickeln sich wirklich schnell. Sie sind innovativ und haben kreative Geschäftsmodelle. Die größeren Unternehmen hingegen haben Reichweite und das Vertrauen ihrer Kunden. Sie haben einen Markt. Wenn beide ein gemeinsames Programm erarbeiten, dann können sie Wunder bewirken“, machte Wollert Mellin deutlich.

Hierarchien behindern Ideenfluss

Robert Falck, Geschäftsführer des schwedischen Start-ups Einride AB, hatte einen konkreten Vorschlag, wie sich die europäischen Konzerne hier verbessern könnten. Nach seiner Erfahrung sollten sie an ihren internen Hierarchien arbeiten. Als beispielsweise Einride-Mitarbeiter mit Angeboten zum Test von autonomen Lieferwagen an deutsche Großunternehmen herantraten, wurden sie nicht zu den entsprechenden Entscheidungsträgern auf Führungsebene vorgelassen.

„In den USA funktionieren solche Kontakte besser, und damit ist auch die Möglichkeit zu Innovation grösser.“ Dort sei zum Beispiel die Tätigkeit in einer Branche wie etwa der technischen Industrie ein Faktor, der die Menschen verbinde – auch Ältere mit Jüngeren. In Europa hingegen ginge man in den Chefetagen bei der Vergabe von Posten und Aufträgen häufig „vom persönlichen Netzwerk aus. Auch das behindert den Ideenfluss“, so Robert Falck.

Visionen vonnöten

Mehrere Teilnehmer der Gesprächsrunde wiesen darauf hin, dass es gerade jungen Menschen um den Nutzen und die Vision des Unternehmens, bei dem sie arbeiten (wollen), geht. Baut es hoch entwickelte medizinische Geräte, die Leben retten können? Arbeitet es daran, den CO2-Ausstoß im Transportsektor zu senken? Stellt es wichtige Lebensmittel her? Welche Zukunftsvision hat die Firma?

„In der vierten industriellen Revolution geht es nicht nur um Technologie“, sagte Kaeser. Politiker müssten Visionen entwickeln. „Unsere jeweiligen Länder, wie auch ganz Europa, brauchen Visionen!“

Mehrere EU-Länder, darunter Schweden und Deutschland, verfügten über die nötigen technischen Qualifikationen, um Europas Position in der Weltwirtschaft zu verbessern, so Kaeser weiter. Aber die EU-Staaten müssten sich auf eine gemeinsame Außenpolitik für die Wirtschaft einigen, gleichgültig wie zersplittert sie intern seien.

Neues Vertrauen schüren

Der 60-Jährige schöpfte aus seinem persönlichen Erfahrungsschatz und der Kindheit in Niederbayern, in unmittelbarer Nähe des Eisernen Vorhangs, als er sich große Zukunftsträume von allen Verantwortlichen wünschte. Träume, wie seine Generation und die Generation seiner Eltern sie gehabt hätten, als Europa nach dem Zweiten Weltkrieg und nach dem Mauerfall erneuert wurde.

Heute gehöre dazu eine Gesellschaft, in der Staat und Unternehmen soziales Engagement beweisen und nach deutschem oder schwedischem Modell an einem Strang ziehen. „Viele Menschen haben kein Vertrauen mehr zu Europa, es ist teilweise durch Nationalismus zersplittert. Wir müssen die Menschen wieder inspirieren!“

„Die vierte industrielle Revolution gehört zu den grundlegenden Veränderungen, die die Welt erlebt hat“, beendete Joe Kaeser die Betrachtungen zur Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft. „Wir gestalten die Welt von morgen!“