Foto: Tacton Systems / www.siemens.com/presse / Scania

Industrie 4.0: Schwedens Industrie baut auf die Technik von morgen

08.04.2015

Die Fertigungsindustrie befindet sich weltweit im Umbruch, individuelle Kundenwünsche verlangen neue Lösungen und das Zauberwort heißt Industrie 4.0. In der smarten Fabrik von morgen, so die Vision, kommunizieren vernetzte Maschinen selbstständig miteinander und erlauben die effektive Fertigung maßgeschneiderter Produkte. Um dieser Vision näher zu kommen, haben sich in Deutschland Politik und Wirtschaft im Rahmen des Zukunftsprojekts Industrie 4.0 zusammengeschlossen. Doch auch in Schweden arbeitet man intensiv an der vierten industriellen Revolution.

Bei den Autoherstellern können Käufer zwischen Millionen, wenn nicht gar Milliarden, verschiedener Kombinationen wählen. Bei Volvo, Volkswagen, BMW oder Mercedes gibt es eine gigantische Vielfalt an Modellen, Karosserien, Motoren, Schaltgetrieben, Lackierungen, Felgen, Bezügen und Sitzen. Hinzu kommen noch Sonderanfertigungen für einzelne Märkte.

Aber auch in den meisten anderen Branchen zeigt sich ein ähnliches Bild. Die Kunden wünschen maßgeschneiderte Lösungen, erwarten dabei jedoch ähnlich kurze Lieferzeiten und niedrige Preise wie bei Massenware. Diese Gleichung kann nur aufgehen, wenn auf neue technische Lösungen gesetzt wird.

„Der Wunsch nach individuellen Produkten bei gleichzeitig immer größerem Kostendruck zwingt die Industrie zu durchgreifenden technischen Veränderungen“, sagt Professor Johan Stahre, Leiter der Abteilung Produktionssysteme an der Technischen Universität Chalmers in Göteborg. „Indem man Intelligenz und Handlungsbefugnisse von einem Zentralcomputer zu den einzelnen Maschinen und Produkten verlagert, erhält man ein Fertigungssystem, das autonom agieren kann und trotzdem für die Menschen, die in der Produktion arbeiten, sicher bleibt.“

Produktentwicklung lässt sich beschleunigen

Der gesamte Prozess von der Produktidee bis zur Markteinführung lässt sich durch Digitalisierung außerdem radikal verkürzen, wie Thomas Stetter, Chef der Abteilung Digital Factory bei Siemens Norden und Polen, erklärt. „Volvo Cars zum Beispiel will die ‚time to market‘, also die Zeit von der Produktionsentscheidung bis zum Fertigungsstart, auf 20 Monate reduzieren.“

Der aktuelle Paradigmenwechsel wird auch gerne die vierte industrielle Revolution genannt. Nach Einführung der Dampfmaschine Ende des 18. Jahrhunderts, der Umstellung auf Elektrizität gut hundert Jahre später und der Automatisierung durch Computer vor knapp 50 Jahren geht es jetzt um die Digitalisierung des Produktionsprozesses. Die Industrie bedient sich des „Internets der Dinge“, also „intelligenter“, vernetzter Produkte und Maschinen. „Ohne Digitalisierung“, davon ist Chalmers-Professor Johan Stahre überzeugt, „kann die Industrie nicht überleben. Deshalb ist das Interesse der Politik an der Entwicklung neuer Technik und den möglichen Produktivitätssteigerungen auch so groß.“

Weltweit arbeiten die Industrienationen an der Fertigungstechnik von morgen. In Deutschland rief die Bundesregierung unter Leitung von Kanzlerin Angela Merkel gemeinsam mit mehreren Wirtschaftsverbänden das Zukunftsprojekt Industrie 4.0 ins Leben. Ziel ist es, durch die Anwendung neuer Technologien die Führungsrolle der deutschen Industrie zu verteidigen und die Konkurrenzkraft gegenüber Billiglohnländern mit ihren Massenprodukten zu stärken.

In den USA schlossen sich verschiedene Unternehmen, Organisationen und Universitäten in der Smart Manufacturing Leadership Coalition (SMLC) zusammen. Im Industrial Internet Consortium, das General Electric gemeinsam mit AT&T, Cisco, IBM und Intel bildete und in dem unter anderem auch Siemens Mitglied ist, will man das industrielle Internet vorantreiben. Südkorea und die Schweiz arbeiten ebenfalls intensiv an der Weiterentwicklung ihrer Fertigungsindustrie.

Schweden fördert nachhaltige Produktion

Auch in Schweden gibt es mehrere Initiativen in dieser Richtung. Der Arbeitgeberverband Teknikföretagen koordiniert zum Beispiel das 2013 gestartete strategische Innovationsprogramm Produktion2030. „Im Jahr 2030 soll Schweden eines der weltweit führenden Länder in der nachhaltigen Produktion sein“, erklärt die Programmverantwortliche Cecilia Warrol das Ziel.

Produktion2030 wird von der schwedischen Innovationsbehörde finanziert. Im Rahmen des Programms werden Gelder an verschiedene Forschungs- und Innovationsprojekte vergeben, Interessenten können sich zwei Mal pro Jahr bewerben. Bereits über zehn Projekte haben so staatliche Förderung erhalten, weitere 10-15 sollen folgen. Außerdem wurde über das Programm eine nationale Forscherakademie für Produktion eingerichtet und es sind weitere Aktivitäten geplant, um auch kleine und mittelgroße Unternehmen in die Projekte einzubinden.

„Allein Teknikföretagen hat etwa 4.000 Mitglieder, die zusammen die Hälfte des schwedischen Warenexports produzieren. Hier gibt es großes Potenzial, Verbesserungsmöglichkeiten im Fertigungsprozess zu identifizieren und dafür neue Lösungen zu entwickeln“, erklärt Cecilia Warrol. Allerdings sei es schon erstaunlich, dass die IT-Nation Schweden mit globalen Marktführern wie Ericsson keine politische Plattform für diese Fragen habe. „In Schweden fehlt es an einem Programm, das in Sachen Koordination und Struktur mit Deutschlands Industrie 4.0 vergleichbar wäre. Aber auch das schwedische Modell hat seine Stärken. Wir haben hierzulande keine Scheu vor Veränderungen, sind trendbewusst und können leicht auf informeller Ebene zusammenarbeiten.“ 

Deutsch-schwedische Forschung

Eine weiteres großes schwedisches Forschungsprojekt im Bereich Produktion ist das Zukunftslabor XPRES (Excellence in Production Research) an der Königlich Technischen Hochschule KTH in Stockholm. Das Labor nahm seine Arbeit bereits im Jahr 2010 auf und kooperiert eng mit Unternehmen wie Scania, Volvo CE, Sandvik, ABB und dem Rüstungskonzern Saab. Neben der Hochschule Mälardalen (MDH) und dem Industrieforschungsinstitut Swerea IVF sind auch ausländische Institutionen wie zum Beispiel die deutschen Fraunhofer-Institute involviert. Gemeinsam versuchen die Partner, eine Plattform für Produktionsforschung zu entwickeln und neue smarte Produktionsmethoden zu finden.

„Viele Unternehmen in Schweden fertigen Produkte und Komponenten auf einem äußerst komplexen Niveau“, betont XPRES-Chef Thomas Lundholm. „Obwohl wir nur ein kleines Land sind, gehören wir zu den weltweit fünf Nationen, die Kampfjets bauen. Jetzt geht es darum, unsere Stellung als führende Industrienation zu behalten.“

XPRES konzentriert sich auf drei Bereiche: Fertigung mit neuen Materialien und Prozessen, Produktentwicklung unter besonderer Berücksichtigung von Lebenszyklen sowie Produktionstechnik, die schnell angepasst werden und flexibel individualisierte Produkte fertigen kann. „In allen drei Bereichen braucht man digitale Anwendungen“, erklärt Thomas Lundholm. „Wir nennen das in Anlehnung an das Computerspiel Sim City eine Sim Factory. In unserer Vision verschmelzen reale und virtuelle Fabrik. In der virtuellen Fabrik macht man alle Testläufe und Simulationen, bevor in der realen dann produziert wird.“

XPRES hat bereits einige Projekte gemeinsam mit der Automobilindustrie durchgeführt. Gerade erst lief das dreijährige LISA-Projekt (Line Information System Architecture) aus, in dem eine neue Art von Referenzarchitektur (Rahmen für sämtliche Softwareanwendungen innerhalb eines Herstellungsprozesses) für Montagelinien in der Autoindustrie entwickelt wurde. „Vereinfacht ausgedrückt bestehen die Linien aus vernetzten Maschinen, die durch Tweets, also kurze Mitteilungen, miteinander kommunizieren und so die Produktion steuern“, erklärt Lundholm.

Standardisierte Lösungen gesucht

Allerdings haben bei Weitem nicht alle Unternehmen die Kompetenz und die finanziellen Mittel, sich einen neuen Maschinenpark mit intelligenten Geräten in die Werkshalle zu stellen. Eine große Herausforderung besteht darin, einfache, standardisierte Kommunikationslösungen zu finden, die in Maschinen aller Art funktionieren. Dieser Herausforderung wollen sich die Wissenschaftler bei XPRES im Nachfolgeprojekt LISA 2 annehmen. „Wir denken da an einfache Apps, die denen in einem gewöhnlichen Smartphone nicht unähnlich sind. Sie sollen dann die Referenzarchitektur unterstützen“, erzählt Lundholm.

Doch wo bleibt eigentlich der Mensch in der Fabrik der Zukunft? Auch diese Frage beschäftigt die Forscher bei XPRES. Als einst der Computer Einzug hielt, meinten viele, er werde über kurz oder lang den Menschen überflüssig machen. Soweit wird es wohl auch diesmal nicht kommen – zumindest nicht in naher Zukunft. „Allerdings werden die Beschäftigten andere, qualifiziertere Arbeitsaufgaben bekommen“, sagt Magnus Lundgren, Doktorand bei XPRES. „Betriebe, in denen ein Mitarbeiter eine Maschine bedient, werden der Vergangenheit angehören. In den smarten Fabriken der Zukunft arbeiten Experten und Problemlösungsspezialisten, die vor allem kontrollieren, ob die Fertigung so läuft wie sie soll.“

Die zunehmende Automatisierung ermöglicht es, das Produktionsniveau mit weniger Angestellten als bisher zu halten. Arbeitsplätze werden verschwinden, was in Anbetracht eines drohenden Fachkräftemangels in Deutschland und Schweden jedoch nicht unbedingt von Nachteil sein muss.

Datensicherheit ist Voraussetzung

Eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg von Industrie 4.0 ist allerdings die Datensicherheit. Wenn Maschinen und Fabriken auf der ganzen Welt miteinander vernetzt sind, steigt auch die Gefahr, dass Informationen in die falschen Hände geraten.

Stoppen lässt sich die längst in Gang gekommene Entwicklung nicht mehr. „Industrie 4.0 ist aber mehr Evolution als Revolution“, sagt Thomas Stetter, Chef von „Digital Factory“ bei Siemens Norden. „Bis sie sich voll durchgesetzt hat, dauert es sicher noch gut 20 Jahre. In gewissen global agierenden Branchen mit starkem Konkurrenzdruck, wie zum Beispiel der Automobil- und Luftfahrtindustrie, ist die Industrie 3.8 aber schon heute Realität.”

 

Fakten zu Industrie 4.0
  • Industrie 4.0 ist ein in Deutschland geprägter Begriff, der in Zusammenhang mit der sogenannten vierten industriellen Revolution steht. Er ist ursprünglich der Name eines Zukunftsprojekts, das die Bundesregierung im Rahmen ihrer Hightech-Strategie startete. Für das Projekt stehen rund 200 Millionen Euro zur Verfügung.
  • Der Begriff Industrie 4.0 wurde anlässlich der Hannover Messe 2011 lanciert. Ende 2012 präsentierte die Arbeitsgruppe Industrie 4.0 unter Leitung von Siegfried Dais (Robert Bosch GmbH) und Henning Kagermann (acatech - Deutsche Akademie der Technikwissenschaften) der Bundesregierung erste Empfehlungen. Bei der Hannover Messe 2013 lag der Abschlussbericht vor. Dies war auch der Startpunkt für die Plattform Industrie 4.0, die von den drei Branchenorganisationen BITKOM (Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien), VDMA (Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau) und ZVEI (Zentralverband Elektrotechnik- und Elektronikindustrie) eingerichtet wurde. Ihre Aufgabe ist es, alle Aktivitäten in diesem Bereich zu koordinieren.
  • Unter der Leitung von Bundeskanzlerin Angela Merkel hat die deutsche Regierung zudem den Nationalen IT-Gipfel einberufen, der als zentrales Kooperationsforum für Politik, Wirtschaft und Wissenschaft fungiert. Eine der Arbeitsgruppen beschäftigt sich mit Industrie 4.0.