Foto: Ulf Lundin

Bildungspolitik ein Grund für niedrige Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland

11.06.2012

„Mit 22, 23 Jahren ist es schwierig, arbeitslos zu sein“. Bevor junge Leute in Deutschland erwerbslos werden, schickt man sie zurück auf die Schulbank.

In Deutschland gibt es viel weniger erwerbslose Jugendliche als im Rest der Europäischen Union. Das liegt zwar im Wesentlichen an der guten Konjunktur. Aber es gibt auch bildungspolitische Erfolgsfaktoren.

Martin, 16 Jahre alt, wird nach neun Schuljahren keinen Hauptschulabschluss bekommen. Er hat zwar gerade erst Klasse 8 beendet und noch ein ganze Jahr vor sich, aber die Aussichten sind düster: Seine Noten sind einfach zu schlecht. Ohne das Abschlusszeugnis jedoch hat er kaum Chancen auf einen Ausbildungsplatz. Martin würde gern Gärtner werden, aber selbst im dünn besiedelten Mittelfranken knüpfen die Arbeitgeber ihre Einstellungszusage an einen ordentlichen Schulabschluss.

Die Arbeitslosigkeit droht Martin trotzdem nicht. Weil er im Bundesland Bayern lebt, wird ihm sein Klassenlehrer einen Platz in einer sogenannten P-Klasse verschaffen. Diese speziellen Praxisklassen der Jahrgangsstufe 9 gibt es nur in Bayern. Sie wurden für lernschwache und eher praktisch begabte Schüler eingerichtet, um sie trotz schlechter Voraussetzungen doch noch zum Hauptschulabschluss zu führen und so einem Platz auf dem Arbeitsmarkt näher kommen zu lassen. In den ein- bis zweijährigen P-Klassen lernen sie, ihr Verhalten zu kontrollieren, sich längere Zeit auf ein Thema zu konzentrieren und sachliche Diskussionen zu führen. Der Fachunterricht in Deutsch und Mathematik soll Wissenslücken schließen, Betriebspraktika in örtlichen Unternehmen machen die Schüler mit der Arbeitswelt vertraut. Wer es sich zutraut, kann am Ende der P-Klasse die Hauptschulprüfung ablegen.

Selbst wenn Martin der Mut dazu fehlt oder wenn er die Prüfung nicht besteht und ihn deshalb kein Arbeitgeber zu einem Vorstellungsgespräch einlädt, wird er nicht arbeitslos. Denn solange er noch nicht volljährig ist, wird sich der zuständige Vermittler der Bundesagentur für Arbeit für ihn um einen Platz in einer anderen Schulform bemühen. Das Berufsgrundbildungsjahr (BGJ) und das Berufsvorbereitungsjahr (BVJ) bieten die Möglichkeit für Schulabgänger, die keine reguläre Lehrstelle gefunden haben, ein berufsvorbereitendes Jahr auf einer Berufsschule zu absolvieren. In einigen Bundesländern ist es für Unter-17-Jährige sogar Pflicht, ein solches Jahr zu absolvieren. Die Besten legen anschließend den Hauptschulabschluss hin. Wer sich fit genug fühlt, kann sich nach einem weiteren Jahr sogar am Realschulabschluss versuchen.

Doch auch das mit einer solchen Prüfung zu Ende gegangene 10. Schuljahr garantiert noch keine Ausbildung. Um die Reife der Jugendlichen weiter zu verbessern, wurden in Nordrhein-Westfalen und in Baden-Württemberg die zweijährigen Berufs-Kollegs eingerichtet. Unterrichtet werden vor allem Fremdsprachen und kaufmännische Fähigkeiten. In einigen Kollegs können sich die Jugendlichen zu Staatlich geprüften Assistenten in kaufmännischen und technischen Berufsfeldern qualifizieren. Auf dieser Grundlage haben sie bei der anschließenden Lehrstellensuche weitaus bessere Karten.

Die lange Halte- und Verweildauer im Bildungs- und Ausbildungssystem ist nach Meinung von Professor Dr. Heike Solga vom Wissenschaftszentrum Berlin der entscheidende Grund dafür, dass Deutschland mit aktuell 7,9 Prozent die geringste Arbeitslosenquote bei Personen unter 25 Jahren hat. „Mit unserem durchlässigen System schaffen wir es ganz gut, auch solche Jugendliche, die keine Ausbildung bekommen, im Übergangssystem der berufsvorbereitenden Maßnahmen zu halten.“ Weil die Schulpolitik Länderangelegenheit ist, habe jedes Bundesland eigene Wege beschritten. Auch die Bundesagentur für Arbeit verfüge über eine reiches Angebot an Maßnahmen, um die Jugendlichen zu qualifizieren und zu beschäftigen. „Bis zum Alter von 22, 23 Jahren ist es ziemlich schwierig, in Deutschland arbeitslos zu sein“, resümiert die Sozialwissenschaftlerin. „Wenn man bei der Bundesagentur für Arbeit auftaucht, bekommt man eine Maßnahme und taucht nicht in der Arbeitslosenstatistik auf.“

Statistisch zählen junge Menschen, die zur Schule gehen, zur Gruppe der in Ausbildung Befindlichen („in education“), und Jugendliche, die sich in einer dualen Berufsausbildung befinden, zur Gruppe der Beschäftigten. Dieser Status ist beiden Gruppen eine Zeitlang sicher. Schulverweise werden nur im äußersten Fall ausgesprochen. Ausbildungsverträge werden für eine Laufzeit von zwei bis dreieinhalb Jahre abgeschlossen und können vom Arbeitgeber nur sehr schwer gekündigt werden. Das Risiko von Schülern und Auszubildenden, in die Arbeitslosigkeit zu fallen, geht mithin gegen Null. „In Deutschland gibt es unter den Jugendlichen nur einen sehr kleinen Teil derer, die sich nicht in irgendeiner Art von Ausbildung befindet“, sagt Heike Solga. „Durch unser System bewahren wir junge Leute in der Vorstufe zur Beschäftigung.


Zwei Arbeitsmarktexperten – zwei Meinungen

Nach Ansicht von Dr. Hans Dietrich vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (iab), der Wissenschaftsabteilung der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg, habe die vergleichsweise geringe Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland gleich mehrere Ursachen. Doch auf das föderale und auf Weiterqualifizierung setzende Bildungssystem sei dies am wenigsten zurückzuführen. „Der wichtigste Grund ist die Tatsache, dass Deutschland insgesamt sehr gelinde durch die aktuelle Wirtschaftskrise in Europa gekommen ist“, widerspricht Dietrich seiner Berliner Fachkollegin, „der Arbeitsmarkt wurde von der zurückgehenden Konjunktur in Europa kaum beeinflusst.“ Davon profitierten nicht nur die Beschäftigten, sondern auch die Schulabgänger. Zum Beweis deutet Dietrich auf die Zahl der abgeschlossenen Ausbildungsverträge in den zurückliegenden Jahren. „Der jüngste Rückgang ist wesentlich der demographischen Entwicklung geschuldet und nur begrenzt der Wirtschaftslage.“

Das nämlich sei Grund Nummer Zwei: Insbesondere in den östlichen Bundesländern schlage sich der Rückgang der Bevölkerungszahlen bereits in einem Mangel an Fachpersonal nieder. Auch Lehrstellen blieben häufiger als im Westen unbesetzt. „In Ostdeutschland zeichnet sich der demografische Wandel schon sehr deutlich ab“, sagt der Arbeitsmarktexperte aus Nürnberg, „augenfällig wird dies anhand der sinkenden Zahl der Schulabgänger.“ (siehe Tabelle)

Überdies sei Jugendarbeitslosigkeit stets eine Folge der allgemeinen Erwerbslosigkeit. Und auch hier stehe Deutschland im europäischen Vergleich gut da. Dietrich führt das auf die mit dem Namen Peter Hartz verbundene Gesetzgebung zurück, mehr noch aber auf die erfolgreiche Arbeitsmarktpolitik der jüngsten Vergangenheit: „Dank Kurzarbeit und anderer Maßnahmen gab es kaum solche Freisetzungsprozesse wie anderswo in Europa.“ In den krisengeschüttelten Ländern Griechenland, Portugal und Spanien finden nach wie vor Entlassungen statt. „Wenn Stellen insgesamt gestrichen werden, leiden natürlich auch die Berufseinsteiger darunter“, erklärt Hans Dietrich.

Last but not least weist auch der Nürnberger Arbeitsmarktexperte auf die Qualität des dualen Ausbildungssystems in Deutschland hin. Während ihrer Berufsausbildung erlernen die Jugendlichen praktisch den Beruf in einem Unternehmen und besuchen parallel dazu die Berufsschule. Dort wird ihnen die dazugehörige Theorie vermittelt. „Das duale System puffert den Übergang zwischen Ausbildung und Beschäftigung sehr gut ab“, lobt Hans Dietrich, „denn wenn die Jugendlichen ihre Abschlussprüfung bestanden haben, sind sie schon einige Zeit im Betrieb bekannt. Nicht viele Unternehmer sind dann willens, gute junge Mitarbeiter einfach gehen zu lassen.“ Sicher auch aus sozialer Verantwortung heraus, aber mehr noch aus betriebswirtschaftlichen Überlegungen: „Die Unternehmen verfolgen in erster Linie ihre geschäftlichen Interessen. Mit der Übernahme von ehemaligen Auszubildenden sichern sie ihre Belegschaftsbasis.“

Den Wind der Konjunktur im Rücken, ein breites schulisches Angebot, das weltweit anerkannte duale System der Berufsausbildung und der demografische Wandel – alles zusammen und in nicht endgültig bestimmbarer Gewichtung schützt die jungen Deutschen vor einem frustrierenden Start ins Arbeitsleben. Oder gibt es noch ein weiteres Sicherheitsnetz?

Für ihre Auszubildenden tun Unternehmer viel

„Ja: Die von den Unternehmern für die jungen Menschen wahrgenommene Verantwortung“, ergänzt Klaus Renner die Ursachen-Wirkungs-Kette um den menschlichen Faktor. Als Sprecher des Deutschen Industrie- und Handelkammertages (DIHK) in Berlin gehört es natürlich zu seiner Aufgabe, die Betriebe gut dastehen zu lassen. Tatsächlich sieht Renner Anhaltspunkte dafür, dass unternehmerische Verantwortung und soziale Verantwortung zusammen gehen. „Die Betriebe sind heute durchaus bereit – was sie früher nicht waren! –, lernschwächere Jugendliche aufzunehmen, um sie an den Beruf heranzuführen.“ Zahlreiche Ausbildungsbetriebe erteilen ihren Lehrlingen Zusatzunterricht in Deutsch und Mathematik, den besonders kritischen Schulfächern. „Die schlechte Zeugnisnote in diesen Fächern kann man durch ein bisschen Nachhilfe verbessern und die jungen Menschen dadurch zur Ausbildungsreife bringen“, versetzt sich Renner in die Lage von Personalnot gebeutelter Firmenchefs. „Früher fehlten die Fachkräfte vor allen in den MINT-Berufen (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik). Die Unternehmen fürchten, dass der Mangel künftig größere Kreise ziehen wird. Das hören wir in allen Umfragen.“

Dem 16-jährigen Martin dürften Worte wie diese tröstlich klingen. Trotzdem wäre er gut beraten, sich für seinen Hauptschulabschluss ordentlich ins Zeug zu legen. Denn für ungelernte Arbeitnehmer ist der deutsche Arbeitsmarkt alles andere als ein Paradies.

Die Ursachen der geringen Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland:

  • die rund laufende Konjunktur
  • das durchlässige schulische Bildungssystem
  • das erfolgreiche duale System der Berufsausbildung in Betrieb und Berufsschule
  • der einsetzende demografische Wandel
  • die von den Unternehmen wahrgenommene soziale Verantwortung