Siemens-Chef Joe Kaeser beim Siemens Innovation Day 2017

Joe Kaeser, Vorsitzender des Vorstands der Siemens AG.

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Joe Kaeser: „Wer jetzt nicht handelt, könnte morgen schon nicht mehr existieren“

16.04.2018

Joe Kaeser, Vorsitzender des Vorstands der Siemens AG, ist Gastredner des German Swedish Tech Forum-Seminars im Rahmen der Jahrestagung der Deutsch-Schwedischen Handelskammer am 19. April 2018 in Stockholm. Hier erklärt er, wie er Siemens fit macht für die digitale Industriewelt und in welcher gesellschaftlichen Verantwortung er seinen Konzern sieht.

Deutsch-Schwedische Handelskammer: Seit Ihrem Antritt als Siemens-Chef 2013 haben Sie zahlreiche Veränderungen im Konzern durchgeführt. Unter anderem hat Siemens seinen Anteil an den Bosch-Siemens Hausgeräten an Bosch verkauft, die Zugsparte mit Alstom fusioniert, Osram abgespalten und nun vor Kurzem die profitable Medizintechniksparte an die Börse gebracht. Wo sehen Sie Siemens in zehn Jahren? In welche Richtung wird sich das Unternehmen dann weiterentwickelt haben?

Joe Kaeser: Das Strategiekonzept „Vision 2020“, das wir 2014 aufgelegt haben, ist ein voller Erfolg. Bereits Ende letzten Jahres haben wir die Ziele der „Vision 2020“ in weiten Teilen erreicht oder auf einen tragfähigen Weg gebracht. Das Geschäftsjahr 2017 war insgesamt ein Rekordjahr – wir haben noch nie zuvor so viel in Forschung und Entwicklung investiert und noch nie so viele Mitarbeiter neu eingestellt. Wir wachsen wieder nachhaltig und sind bei den meisten Geschäften Weltklasse.

Doch nicht nur unsere Zahlen stimmen wieder, sondern ernten wir auch Anerkennung für unsere Arbeit: In einer Umfrage des Magazins Forbes unter 15.000 Meinungsbildnern in 60 Ländern wurde Siemens als angesehenstes Unternehmen der Welt gewählt – nicht etwa Google oder Apple.

In diesem Jahr wollen wir unter dem Arbeitstitel „Vision 2020+“ die Weichen stellen, Siemens noch besser für die Zukunft über 2020 hinaus zu rüsten. Denn Konglomerate alten Zuschnitts haben keine Zukunft mehr.

Beim Siemens der nächsten Generation geht es vorrangig um die optimale Kombination dreier wichtiger Aspekte: die Marke Siemens als starkes und verbindendes Element, die Fokussierung unserer Geschäfte und die vereinfachte Governance.

Die Siemens-Geschäfte müssen sich noch stärker auf ihre jeweiligen kritischen Erfolgsfaktoren fokussieren. Sie müssen mit den Spezialisten in ihren Branchen mithalten können und mindestens so gut sein wie ihre stärksten Wettbewerber. Unsere Geschäfte müssen mit so wenig administrativem Aufwand wie möglich und so viel organisatorischer Unterstützung wie nötig geführt werden; mit Managementmodellen, die maßgeschneidert sind für die Bedürfnisse des jeweiligen Geschäfts. Das ist für uns vereinfachte Governance.

Siemens ist sowohl im In- als auch im Ausland zu einer Art Synonym für die Industrie 4.0 geworden. Aber auch Sie sind noch nicht am Ziel. Worin sehen Sie derzeit das größte Hindernis für die weitere Digitalisierung des Konzerns?

In Zukunft sind nicht mehr die größten Unternehmen die aussichtsreichsten, sondern die anpassungsfähigsten. Komplexe und breit angelegte Konzerne wie Siemens fordert das existenziell heraus. Zwar haben wir bereits in den vergangenen 170 Jahren bewiesen, dass wir anpassungsfähig sind. Neu ist allerdings die Geschwindigkeit, mit der dieser Wandel passiert. Und neu ist die Konsequenz, mit der wir heute darauf reagieren müssen. Neu sind auch die massiven Paradigmenwechsel, die neue Technologien ermöglichen. Sie werden heutige Geschäftsmodelle gravierend verändern und damit ganze Unternehmen.

Aktuell beschäftigt Siemens weltweit etwa 370.000 Mitarbeiter. Viele dieser Arbeitsplätze werden durch die Digitalisierung verschwinden oder großen Veränderungen unterworfen. In welcher gesellschaftlichen Verantwortung sehen Sie Siemens als globalen Arbeitgeber, diesen Prozess zu begleiten?

Wenn wir unsere Auszubildenden richtigerweise hinzurechnen, dann arbeiten sogar 386.000 Menschen auf der ganzen Welt für Siemens und unsere Kunden. In der Tat stellt die digitale Transformation der Industrie nicht nur die Unternehmen, sondern alle Menschen und Institutionen vor große Herausforderungen. Ich bin jedoch überzeugt davon, dass die Chancen des Strukturwandels überwiegen – wenn sie entschlossen gestaltet werden.

Wir werden in den kommenden drei bis fünf Jahren, bis zu 100.000 Menschen weltweit einstellen. Allein in Deutschland etwa 12.000 bis 15.000. Die Frage ist nun: Wie schaffen wir es, möglichst viele der jetzt vom Strukturwandel betroffenen Mitarbeiter so weiterzuqualifizieren, dass sie für diese Jobs in Frage kommen? Wichtig ist auch, dass wir deren Mobilität ermuntern und unterstützen.

Voraussetzung für eine erfolgreiche Umsetzung ist ein gemeinsamer Zukunftsdialog von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, den Tarifpartnern und der Zivilgesellschaft. Dieser Dialog muss national und international, insbesondere auch innerhalb der Europäischen Union geführt werden. Siemens hat zugesagt, sich aktiv einzubringen und einen Beitrag auch im Rahmen seiner gesellschaftlichen Verantwortung zu leisten.

In Deutschland, Schweden und anderen Industrienationen wächst die Produktivität in der Wirtschaft seit einiger Zeit nicht mehr so stark wie zuvor, was viele Volkswirte beunruhigt. Wie können wir, Ihrer Meinung nach, die Produktivität in unseren beiden Ländern wieder stärker steigern?

Produktivität ist, gerade auch in Zeiten schrumpfender und älter werdender Bevölkerungen in vielen Industriestaaten, ein wichtiger Treiber wirtschaftlichen Wachstums und Wohlstands. Aus meiner Sicht spielt dabei besonders die Innovationskraft unserer Nationen und ihrer Unternehmen eine ganz zentrale Rolle. Ich weiß, dass in Schweden Innovation und Forschung hoch geschätzt werden. Nicht zuletzt belegt Schweden im EU-weiten Innovationsranking European Innovation Scoreboard den ersten Platz vor Dänemark, Finnland, den Niederlanden, Großbritannien und Deutschland. Mit Platz 6 in Europa kann unser Land ganz bestimmt nicht zufrieden sein – und ein Anlass zu Bequemlichkeit und Selbstzufriedenheit ist das schon gar nicht.

Aber wir haben in Industrie und Produktion eine führende Stellung. Das gilt auch für die nächste Generation – Schlagwort „Industrie 4.0“. Und ich kenne ein Unternehmen mit deutschen Wurzeln sehr genau, das in diesem Bereich die Nummer Eins in der Welt ist und Maßstäbe setzt.

Welchen Rat würden Sie einem mittelständischen Unternehmer geben, der den Digitalisierungsprozess in seinem Unternehmen weiter vorantreiben möchte?

Es kommt natürlich immer auf den Einzelfall an. Aber klar ist: Unternehmen, die morgen erfolgreich sein wollen, müssen heute die Chancen der Digitalisierung nutzen: eklatante Innovationsschübe, höchste Produktionsqualität, Flexibilität und Effizienz, kürzere Reaktionszeiten auf Kundenwünsche und Marktanforderungen. Das gilt auch für den Mittelstand.

Mein Rat ist: Behalten Sie immer den Kundennutzen im Auge und prüfen Sie, wie Sie diesen durch Ihre Kompetenzen maximieren. Denn in der digitalen Industriewelt gilt: Wer jetzt nicht handelt, könnte morgen schon nicht mehr existieren.